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Im Exil schreibt der Wiener Friedensnobelpreisträger in sein Kriegstagebuch

Erstellt am 12.11.2018 von Andreas Hermann Landl
Dieser Artikel wurde 4001 mal gelesen und am 13.11.2018 zuletzt geändert.

Bern, 12. November 1918

„Heute Nacht ist der letzte Schuss gefallen.

Der Weltkrieg ist in Wirklichkeit beendet. Mit ihm hoffentlich das kriegerische Zeitalter, das Zeitalter des Militarismus. Gestern ist der Waffenstillstand abgeschlossen worden. Heute Nacht um 11 Uhr wurden die Feindseligkeiten eingestellt. Das sich dieses ewig denkwürdige Ereignis gerade an meinem Geburtstag vollzog, war mir ein freudiges Erlebnis.

Der Krieg ist vorbei. Nun heißt es, den Frieden errichten und dann darangehen, den Schutt zu beseitigen. Die Ereignisse in ihrer Fülle und umwälzenden Bedeutung sind überwältigend. Deutschland entwickelt sich in rasendem Tempo zur Republik. Wilhelm II., der mächtige Soldatenkaiser des machtvollen deutschen Reiches, ist in Zivilkleidern — nach Holland geflüchtet Dort soll er interniert werden. Tragisches Schicksal eines Weltzerstörers. Noch lange nicht so traurig wie das der blutenden, hungernden Völker. In Sachsen. Württemberg, Oldenburg ist die Republik erklärt worden, wurden die Dynastien abgesetzt Nur Baden und Mecklenburg fehlen noch von den größeren deutschen Staaten Sie werden folgen, und mit den kleinen Fürstlichkeiten und Familienherrschaften wird man wohl nicht langen Prozet machen. Die deutsche Republik ist auf dem Weg. Wird sie ein festes Gefüge sein oder in Bolschewismus ausarten? Das ist die Frage, die bange Zukunftsfrage Wird der Militarismus in der veränderten Form des radikalen Sozialismus das Zersetzungswerk weiter betreiben?

Auf dem Berliner Schloss weht die rote Fahne. Karl Liebknecht, der Zuchhäusler der Autokratie, durfte sie hissen. Auf dem Schloss der Hohenzollern, wo die Embleme der Brandenburger Dynastie flatterten, am Brandenburger Tor die rote Fahne! Das erlebt zu haben, ist etwas, das einem das Leid dieser vier Jahre und das noch kommende Leid leichter ertragbar macht Ich erinnere mich noch an Eugen Richters Kampfbroschüre gegen den Sozialismus, «Sozialdemokratische Zukunftsbilder» betitelt, die ungefähr 1890 erschienen. Diese «Zukunftsbilder» beginnen mit der damals als Witz gemeinten Schilderung: «Auf dem Berliner Schloss weht die rote Fahne.» Zum Lachen! Nun, heute nach 28 Jahren, ist dieser Witz ernste Wirklichkeit geworden, heute ist auch Bebels Prophezeiung vom «großen Kladderadatsch» — um einige Jahre verspätet (Bebel prophezeite ihn für die Jahrhundertwende) — ebenfalls Wirklichkeit geworden. Der Wandel der Gesellschaftsordnung wird Wirklichkeit.

Wir ahnten es doch nicht, dass der Militarismus, dass Wilhelm II. eigentlich die Geburtshelfer des neuen Deutschland wurden. Sie haben durch ihren Druck das Neue gezeugt, ihr Wirken waren die Gebärkrämpfe der neuen Zeit. Ungefähr im Februar 1915 schrieb ich es hier, dass dieser Krieg nur eine Episode der Weltrevolution sein dürfte. Eine Zuspitzung der Krise, die ein halbes Jahrhundert früher angefangen hat, und die wohl wieder ein halbes Jahrhundert brauchen wird, um abzuflauen. Wir sind die armseligen Zeitgenossen dieser Übergangsperiode. Glückliche Menschen, die einst die neue Zeit erleben werden, deren Gebären im Sturm und Blitz wir durchmachen, deren Kommen wir sehen, deren Gestaltung wir ahnen.“

Quelle: www.kriegstagebuch.at

 

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