100 Jahre französischer Humor im Krieg
5. Juli 1916. In Verdun war das industrielle Massenschlachten nach fünf Monaten abgeflaut, an der Somme tobte seit vier Tagen die britisch-französische Gegenoffensive, deren Verluste noch höher als die in Verdun werden sollten.
(Christophe Zerpka) Hundert Jahre Ente in Ketten (Wochenzeitung: Le Canard enchaîné)
Nach einem ersten Versuch vom September 1915 bis April 1916. Erscheit seit 5. Juli die Wochenzeitung: Le Canard enchaîné – Journal humoristique. Feliz 100!
Humor im Krieg?
- Ein Witzblatt, dass die Moral der Truppe stärken und Hohn und Spott auf den Feind gießen sollte?
- Eine launige Gourmet-Zeitschrift für Kriegsgewinnler?
- Zyniker?
Nein! Die Zeitung nimmt sich – wie die Wiener Wochenschrift der Friede – kein Blatt vor den Mund. Sie ist allerdings humorvoller und wird trotz »Madame Anastasie«, wie die Pressezensur in Frankreich genannt wurde, schnell bekannt. Die zensierten Artikel werden wie in kritischen Wiener Schriften durch weiße Felder abgebildet. Zusätzlich druckte „Le Canard“ noch eine Schere ins weiße Feld.
Hauptgegner von Le Canard enchaîné war die patriotische Jubelpresse. Eine Personengruppe die auch der Wiener Satiriker Karl Kraus in der berühmten „Fackel“ vorführte.
Eine Leserumfrage im Krieg
Lebhaftes Echo fand eine Leserumfrage, die den Häuptling des Stammes der »Schädelstopfer« küren sollte. Gustave Hervé wurde mit 5653 Stimmen zum Sieger erklärt. Der ehemalige Anarchist hatte 1914 eine fulminante patriotische Kehrtwende vollbracht und war nun der Herausgeber der Zeitung „La Victoire“ – Der Sieg.
Warum Ente in Ketten?
Eine ähnliche Wandlung machte später Georges Clemenceau (* 28. September1841 – † 24. November1929). Er war ein französischer Journalist, Politiker der sogenannten Dritten Republik. Als einer der führenden Vertreter des linksbürgerlichen Parti radical war er von 1906 bis 1909 und noch einmal von 1917 bis 1920 französischer Ministerpräsident. 1899 war er Fürsprecher eines Wiederaufnahmeverfahrens zur Rehabilitierung von Alfred Dreyfus. Nach dem I. Weltkrieg war er einer der Befürworter der fatalen harten Politik gegenüber Deutschland und Österreich nach Kriegsende. Vor dem Krieg gab er die Zeitung L’homme libre heraus. Nach Kriegsbeginn und Beginn der Zensur hat er sie in L’homme enchaîné umbenannt.
Maurice Maréchal, der Gründer des Canard, diente dieser Titel als Vorlage, denn »canard« war in Frankreich eine umgangssprachliches Bezeichnung für »Zeitung«. Schon 1915 hatte der ehemalige Journalist des Matin versucht, seinen Canard zu lancieren. Nach fünf Nummern ging er pleite. Dass die Zeitung nun hundert Jahre durchhalten würde, hätte sich der Gründer wohl nicht träumen lassen.
100 Jahre mit Humor gegen Pflichtlügen
1918, als der Krieg zu Ende war, triumphierte der Canard:
»Für die Ehre des Journalismus wagten einige Mutige den Blitzen der Anastasie zu trotzen, zogen den Kampf der Pflichtlüge vor, drückten je nach Laune und Begabung einige schreckliche Wahrheiten aus, verfolgt von der Schere der Zensoren quer durch die Presse.«
Die Zensur wurde trotzdem bis 1919 beibehalten. Ab Oktober 1919 nennt sich der Canard eine kurze Zeit déchaîné. Doch dann wurde festgestellt, dass die Zensurschere in den Köpfen der Journalisten immer noch arbeitete.
1920er Jahre
Das Blatt bekam in Frankreich nun viele satirische Konkurrenten. Es konnte sich jedoch gut behaupten. Der Canard gilt als nonkonformistisch links. Er hat auch viele Rubriken die sich mit Kultur beschäftigen oder mit den in Frankreich beliebten anzüglichen Wortspielen (»contrepèteries«). Noch heute soll es Leser geben, die zuerst die Seite 7 links unten aufschlagen: »Sur l’album de la comtesse«.
Ab 1936
Erstmals gewinnt in Frankreich ein linkes Bündnis die Wahlen. Der Canard unterstützte vehement diese „Volksfront“:
»Nach dem Bankrott der diversen reaktionären Experimente liegt nun das Vertrauen bei der Linken. Die zukünftige Regierung sollte das nutzen, indem sie dem auf dem Wege zur Besserung befindlichen Land etwas anderes als ›Dauerdiät‹ verschreibt«.
Die ersten Maßnahmen dieser Regierung klangen für die Linke vielversprechend. Vor allem der neu eingeführte bezahlte Urlaub wurde von den Franzosen und Französinnen begrüßt. Nach zwei Jahren ist das Linksbündnis allerdings gescheitert Geschichte. Anzeichen für einen neuen Krieg werden deutlicher. Die Zeitung unterstützt nun das Münchner Abkommen, auch wenn dies als Niederlage bezeichnet wird:
»Besser eine Niederlage, bei der kein Blut fließt, als ein Sieg, der eineinhalb Millionen Tote hinterlässt.«
5. Juni 1940 – Canard -Nummer 1249:
»Wir treffen Vorkehrungen, um im Rahmen des Möglichen unseren Lesern eine bessere Aufmachung zu bieten.«
Es dauert mehr als vier Jahre dauern, bis die Nummer 1250 erscheinen kann.
6. September 1944 – Erster Canard nach der Befreiung von Paris
»Am 11. Juni 1940 waren wir dabei, diese Ausgabe des Canard vorzubereiten. Diese Nummer – nicht ganz dieselbe natürlich – erscheint nun erst heute am 6. September 1944. Ich denke, es ist nicht notwendig, dieses mehr als vier Jahre lange Schweigen zu erklären.«
- Maurice Maréchal war 1942 verstorben.
- Trotzdem waren viele Mitarbeiter waren wieder beim Canard tätig.
- Einige hatten für die Vichy-Presse geschrieben, sogar für das berüchtigte anti-semitische Hetzblatt Je suis partout.
- Morvan Lebesque, der in den 60er Jahren eine der brillantesten Federn des Canard werden sollte, schrieb für die schlimmsten faschistischen Blätter während der deutschen Besatzung.
- Andere waren »sauber« geblieben.
Die erste Nummer nach der „Libération“, der Befreiung 1944 war ein voller Erfolg. Die Auflage lag bei 500.000 Stück. Das Wiedererscheinen des beliebten Satireblattes gab den Franzosen das Gefühl, wieder in der Dritten Republik zu leben. Dies war natürlich auch der Tatsache geschuldet, dass viele die zwiespältige Zeitspanne rasch vergessen wollten. Die Kollaboration mit den Nazis und Résistance gegen sie hatte ja im Dritten Reich Hitlers viele fließende Übergänge.
1946 die IV. Republik
Nachdem General de Gaulle zwei Jahre provisorisch das Land regiert, wird 1946 die IV. Republik ausgerufen. Die nun ständig wechselnden Regierungen und Minister sind für die Satire problematisch.
- Es gibt Skandale, aber kaum jemanden, den man festnageln kann.
- Der Kalte Krieg, erfordert für ein non-konformistisches Blatt Positionierungen fordert, die es nicht leisten kann oder will.
1953 ist die Auflage auf 103.000 Exemplare gesunken.
1958 mit der Rückkehr de Gaulles und der Errichtung der V. Republik ändert sich die Lage für den Carnard wieder grundlegend günstiger.
- Die neue Machtfülle des Staatspräsidenten verspricht Stabilität, aber auch einen neofeudalen Regierungsstil.
- Während die »normale« Presse und das neue Medium Fernsehen dem neuen König eher devot begegnen, kann man im Canard die Rubrik »La cour« lesen, eine satirische Hofberichterstattung im Stil des Sonnenkönigs mit Karikaturen nach Art der absolutistischen Hofmalerei.
Mai 1968 ist die Zeitung auf der Seite der Studenten und Gewerkschaften.
Am 30. Mai wird in Frankreich der Generalstreik ausgerufen. Nun werden dem Satireblatt in der Streikzeitung Combat vier Seiten eingeräumt. De Gaulle kann sich jedoch noch einmal retten. Erst am 27. April 1969 wird der General durch ein Referendum endgültig in den Ruhestand versetzt.
Ära Pompidou 1969-71
Mit der Wahl von Georges Pompidou setzt der Canard seine höfische Rubrik unter dem Namen »La Régence« fort.
1971 Claude Angeli wird Redakteur bei Canard
Nun beginnt eine neue Ära für den Canard. Claude Angeli tritt in die Redaktion ein. Der Journalist war bereits 1964 aus der KP ausgeschlossen worden. Er hat zuvor auch für einige andere Zeitungen gearbeitet. Er betreibt investigativen Journalismus. Er veröffentlicht bespielsweise die Steuererklärung des Premierministers Chaban-Delmas. Es folgen weitere Skandale. Sie werden mit Fotokopien belegt.
Der Geheimdienst beginnt, sich für die Zeitung zu interessieren
Am 3. Dezember 1973 erwischt ein Mitarbeiter als Klempner getarnte Techniker. Sie wollten gerade in den neuen Räumen der Redaktion heimlich Mikrofone installieren.
Die nächste Nummer (»Watergate au Canard«) erreicht eine Auflage von einer Million. Nach dem
1974 Giscard d’Estaing gewinnt knapp gegen den linken Mitterrand.
Kompromittierenden Veröffentlichungen des Canard über die Diamantengeschäfte Giscard d’Estaings mit dem Diktator Bokassa leisten einen wichtigen Betrag zur nächsten politischen Linkswende in Frankreich.
1981 Mitterrand siegt bei den Präsidentschaftswahlen mit einem Linksbündnis
Der sozialistische Präsident Mitterrand wird in den ersten Monaten vom Canard mit Respekt bedacht.
1983, Präsident Mitterrand verkündet ein drastisches Sparprogramm. Der Canard wird nun wieder kritischer. Auch die diversen Militäreinsätze sowie die Versenkung des Greenpeace-Schiffes »Rainbow Warrior« tragen zur Enttäuschung über den Hoffnungsträger der Linken bei.
Ab 1986 – Mitterrand muss den Gaullisten Chirac zum Ministerpräsidenten ernennen. Die Linke hat nun im Parlament keine Mehrheit.
1988Mitterand gewinnt erneut die Präsidentschaftswahl
Nun zollt ihm der Canard Respekt als gewieften Taktiker. Der erste Kosename im Canard »Tonton« (Onkel) wird längst nicht mehr benutzt. Nun spricht man im Canard ironisch von »Dieu« (Gott Mitterand).
1995 wird der Rechte Jacques Chirac zum Präsidenten gewählt und bleibt bis 2007 im Amt.
Der Canard deckt in dieser Zeit zahlreiche Affären auf. Vor allem die Vergabe von Gefälligkeitsjobs an verdiente Parteimitglieder in seiner Zeit als Pariser Bürgermeister bringt Chirac in Schwierigkeiten. Der Stadt sind dadurch nachweislich fünf Millionen Euro Schaden entstanden. Erst 2009, als Chirac keine Immunität mehr genoss, wurde er dafür zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt werden.
2007-2011 Präsident Sarkozy ein gefundenes Fressen für den Canard
Ein Egomane im Élysée-Palast
- der kaum ein Fettnäpfchen ausließ und
- zudem noch eine reiche Sängerin heiratete,
- der Journalisten öffentlich beschimpfte und demütigte oder
- die Entlassung eines unbotmäßigen Fernsehmoderators erwirkte,
er zog die Blitze der Satire wie ein Magnet auf sich. Auch das französische Wahl-Volk ließ sich von dem glamourösen Präsidenten nicht allzu lange beeindrucken.
2012-2016 begann die Canard-Ära des Sozialisten Hollande
Der Präsident hatte im Wahlkampf versprochen, vieles anders zu machen. Er war auch in seiner Erscheinung ein Gegenentwurf zu seinem Vorgänger. Der Canard war jedoch schon am Tag nach der Wahl misstrauisch, denn Hollande erbte von Sarkoy einen Schuldenberg von 1700 Milliarden Euro. Neben dem Präsident Hollande beschäftigt sich der Canard nun auch
- mit den Affären der alten Regierung. »Bygmalion«, eine Scheinfirma, mit der Sarkozy seinen Wahlkampf finanzierte wird so journalistisch aufgearbeitet.
- Auch die Erfolge des Front National sind Thema. Im Frühjahr 2016 veröffentlicht das Blatt Dokumente über den Immobilienbesitz von Marine Le Pen.
Ist der Canard heute noch links?
Es hat den Anschein, als mache die Redaktion sich wenig politische Illusionen. Auch was die Linke betrifft. Das äußert beispielsweise darin, dass der Canard über den Kandidaten der Linken, Jean-Luc Mélonchon, recht ungeniert spottet. Das investigative Moment ist seit dem Abgang von Chefredakteur Agneli im Jahr 2012 in den Hintergrund getreten. Nur Claude Angeli, Jahrgang 1931, liefert im Unruhestand – auch mit 85- regelmäßig brisante Artikel. Informationen dafür bezieht er von Wistle-Blowern
- aus dem Militär,
- der Diplomatie und
- der Polizei
Viele hoffen auf einen würdigen Nachfolger.
Der Canard mit 100
- Rund 80 Mitarbeiter
- Bezahlung für fanzösische Zeitungen relativ großzügig.
- Das mittlere Gehalt liegt bei monatlich 3750 Euro,
- außerdem drei zusätzliche Monatsgehälter und
- eine Prämie.
- System kunstvoll verschachtelter Besitzverhältnisse
verhindert Übernahme der Zeitung durch andere.- Geld-Reserven 2008: 81,7 Millionen Euro.
Christophe Zerpka, dem dieser Artikel wesentliche Inputs verdankt, jubelt in einem Artikel für Ossziezky:
Im seinem 100. Erscheinungsjahr ist der Canard immer noch wirtschaftlich gesund.
Wenn man sich die Bilanz anschaue, die das Blatt jeweils in der letzten Augustnummer für das Vorjahr veröffentlicht, werde ersichtlich, dass
- die Auflage im Jahr 2014 bei 389.567 verkauften Exemplaren lag,
- der Reingewinn bei 2.395.972 Euro.
Ein stolzes Ergebnis, und dies nach wie vor ohne Werbeeinnahmen und bei einem seit 24 Jahren konstanten Preis von 1,20 Euro.
- Eine Internetausgabe sucht man bis jetzt vergeblich. Wer den Canard im Web sucht, findet lediglich die aktuelle Seite 1 als Faksimile, auf dem aber nur die Schlagzeilen zu erkennen sind.
Eine ausführliche Erklärung, weshalb es eben keine Internetausgabe gibt:
»Unsere Aufgabe ist es, unsere Leser zu informieren und zu unterhalten, und zwar mit Zeitungspapier und Tinte. Eine schöne Aufgabe, die unsere Belegschaft voll und ganz in Anspruch nimmt.«
Le Canard enchaîné hat sicher nicht mehr die Bissigkeit der 70er und 80er Jahre, doch wer hat schon mit hundert noch alle Zähne? Seine Einzigartigkeit und seine Tradition schützen ihn vor jeglicher Konkurrenz, und eine Regierung, die die Ente verbietet, ist vorerst nicht in Sicht. In dem Sinne: Bonne anniversaire!
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