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60 Thesen für eine europäische Friedenspolitik

Erstellt am 10.05.2005 von Michael Striebel
Dieser Artikel wurde 2080 mal gelesen und am 28.02.2010 zuletzt geändert.

Friedensforscher/innen der AG Friedensforschung an der Uni Kassel  legen kürzlich Memorandum zur EU-Außen- und Sicherheitspolitik vor.

Michael Berndt, Ingrid El Masry, Werner Ruf, Peter Strutynski
Kassel 2005

Die AG Friedensforschung an der Universität Kassel veranstaltet u.a. den jährlich stattfindenden bundesweiten und internationalen ”Friedenspolitischen Ratschlag”. Der 12. Friedenspolitische Ratschlag findet am 3. und 4. Dezember 2005 in Kassel statt.

Die Seite der AG Friedensforschung im Internet: www.uni-kassel.de/fb5/frieden

Bezugsadressen für die „60 Thesen“
Universität GhK, P. Strutynski, FB 10, Nora-Platiel-Str. 5, 34109 Kassel; Tel. 0561/804-2314, FAX 804-3738 oder per e-mail: strutype@uni-kassel.de
Die „60 Thesen“ werden zum Selbstkostenpreis von EUR 2,- abgegeben.
Inhalt
Vorwort ……………………………………….. 5 Einleitung(Ziff.1-7) ……………………………… 7 Die Probleme dieser Welt sind vor allem ziviler Natur (8-26) . . . . . . . 9
ArmutundReichtum(13-18) …………………… 11 Umweltzerstörung und Ressourcenverbrauch (19-21) . . . . . . 14 Demokratiedefizite und gescheiterte Staaten (22-26) . . . . . . . 16
DefiziteundWidersprüchederEU-Politik(27-34) …………… 19
MenschenrechteundAsylpolitik(27-30) …………….. 19 Terrorismus und „Anti-Terror-Krieg“ (31-34) . . . . . . . . . . . . 21
Aufrüstung und Krieg: Weltweite Trends und europäische Politik (35-50) 22
EU-(Militär-)Verfassung(39-44) …………………. 24 Die „Europäische Sicherheits-Strategie“ (ESS) (45-50) . . . . . . 27
Allgemeine Grundsätze einer zivilen EU-Politik (51-53) . . . . . . . . . . .. 29 FriedenspolitischeEmpfehlungen(54-60)…………………. . 31
Literatur ……………………………………….. Abkürzungsverzeichnis ………………………………
33 35
Seite
Vorwort
Der Entwurf der EU-Verfassung ist auf massive Kritik der Friedensbewegung und Friedensforschung gestoßen, beinhaltet er doch die Verpflichtung der Mitglied- staaten zu permanenter Aufrüstung und die Schaffung einer Europäischen Vertei- digungsagentur zur und Optimierung der gemeinsamen Rüstung. Damit hebt der Entwurf Verträge in Verfassungsrang, die zuvor auf Regierungskonferenzen von Maastricht über Nizza bis Helsinki geschlossen wurden. Wichtig ist jedoch, dass sämtliche Entscheidungen in Fragen von Krieg und Frieden der Kontrolle durch das Europäische Parlament entzogen bleiben. Die Operationalisierung dieser Bestimmungen liefert die zeitgleich mit dem Verfassungsentwurf beschlossene Europäische Sicherheitsstrategie (ESS), die auch die Möglichkeit zu präventiven Militäreinsätzen weltweit eröffnet. Die ESS selbst fordert – neben den USA – für Europa die Rolle eines „Global Player“ und leitet daraus die Notwendigkeit eines militärischen Interventionismus ab. Die voll im Gang befindliche Aufstellung der EU-„Battle Groups“ unterstreicht dieses offensive Konzept.
Allerdings: die ESS geht aus von einem erweiterten Sicherheitsbegriff, der die weltweit wachsende Armut, den Hunger, die Unterernährung und Krankheiten und den daraus resultierenden Zusammenbruch ganzer Gesellschaften als zentrale Ursachen für die Zunahme von Konflikten benennt. Diesem Befund ist nicht zu widersprechen. Und genau hier setzen unsere „60 Thesen“ an. Denn eine Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, muss bei den Ursachen der Konflikte im globalen System ansetzen, nicht aber deren Symptome militärisch bekämpfen. Schon bei der Ausarbeitung der Charta der Vereinten Nationen wurden diese Ursachen benannt als „Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art“, ganz wie die Achtung der (auch materiellen) Menschenrechte als Fundament einer friedensfähigen internationalen Ordnung bezeichnet wurden. Eine Analyse der Konfliktursachen muss daher die Triebkräfte benennen, die vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges ungehemmt die Weltwirtschafts- und – sozialordnung bestimmen und deren negative Auswirkungen auf die Weltgesellschaft in zahlreichen Berichten der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen präzise analysiert wurden. Eine solche Analyse wäre zugleich ein produktiver Beitrag zum Verständnis und zur de-eskalierenden Reaktion auf den gebetsmühlenhaft beschworenen „Internationalen Terrorismus“, dessen militärische Bekämpfung sich nicht nur ganz offensichtlich als kontraproduktiv erweist, sondern in den Augen der Entrechteten dieser Welt zur Rechtfertigung der Anwendung extralegaler Gewalt gerät.
Genau hier könnte und müsste eine diesen Namen verdienende Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik ansetzen: Der Weg von der EGKS über die EWG und EG zur EU zeigt überdeutlich, dass eine sich an sozialen
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Standards orientierende wirtschaftliche und politische Integration es vermochte, den alten Kontinent zu einen und Jahrhunderte alte Gegensätze zu überwinden. Das Pochen der EU auf Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte ist mehr als ein Lippenbekenntnis: Es ist Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum auf der Grundlage von sozialem Ausgleich und von Rechtssicherheit. Und die Binnenleistungen der EU haben ihr eine Außenwahrnehmung als Zivilmacht eingebracht, die ein gewaltiges politisches Kapital darstellt.
Genau hier liegen auch die Chancen der EU, die sich aber – durchaus als „Global Player“ – in ihrer Programmatik absetzt vom militarisierten Unilateralismus der USA und statt militärischem Interventionismus auf die Instrumente der Konflikt- prävention, der Entwicklungshilfe und Diplomatie, der Durchsetzung rechtsstaatlicher Grundsätze und der Menschenrechte setzt. Aus ihrer eigenen Geschichte heraus kann – und müsste – die EU jene Instrumente einer Sicherheitspolitik weiterentwickeln, die allein geeignet sind, unsere Welt friedlicher zu machen. Hierzu gehören neben fruchtbaren Ansätzen wie der Europäischen Initiative für Menschenrechte und Demokratie oder der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs vor allem auch der Ausbau eines wirksamen supranationalen Gewaltmonopols, wie es in der UN-Charta angelegt ist, anstelle nationaler oder supranationaler Interventionsarmeen, die letztlich immer Instrumente rein nationaler oder (im Bündnis) kollektiver Interessendurchsetzung bleiben müssen und in unserer ökonomisch wie politisch und militärisch asymmetrischen Welt nur konfliktverschärfend und damit destabilisierend wirken. Der gerade von der deutschen Außenpolitik immer wieder beschworene Multilateralismus ist nicht das Gleichziehen einer militarisierten europäischen Außenpolitik mit den USA, sondern eine Entmilitarisierung der internationalen Beziehungen und eine strikte Befolgung längst etablierter Normen des Völkerrechts. In diesem Sinne könnte eine zivile europäische Außen- und Sicher- heitspolitik einen nachhaltigen Beitrag zur Zivilisierung der internationalen Beziehungen leisten, die auch gegenüber der US-Außenpolitik alternative, mittelfristig konstruktivere (und deshalb nachahmenswerte) Maßstäbe setzen könnte.
Die folgenden 60 Thesen beruhen auf Diskussionen, welche die Verfasser im Rahmen eines Arbeitskreises der ÖSFK (Österreichisches Studienzentrum für Friedensforschung und Konfliktlösung) geführt haben.∗ An der Abfassung des Textes waren Michael Berndt, Werner Ruf und Peter Strutynski (alle AG Friedensforschung) sowie Ingrid al Masry (Uni Marburg) beteiligt. Mirjam Wolfstein-Lätsch (AG Friedensforschung) war für die Recherchen zuständig
∗ In der ÖSFK-Arbeitsgruppe sind außer den Autoren noch beteiligt: Patricia Bauer (Uni Osnabrück), Carola Bielfeldt (Uni Innsbruck), Hans-Joachim Heintze (Uni Bochum), Susanne Fischer (Uni Mainz) sowie Dietrich Fischer, Gerald Mader, Thomas Roithner und Ronald Tuschl (alle ÖSFK Stadtschlaining und Wien).
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Einleitung
(1) „Frieden ist nicht alles – aber ohne Frieden ist alles nichts.“ (Willy Brandt). Dies gilt ähnlich natürlich auch für das Beziehungsgeflecht von Frieden und Si- cherheit: Ohne Sicherheit ist Frieden nichts, aber auch umgekehrt gilt: Ohne Frie- den gibt es keine dauerhafte Sicherheit. Das bedeutet zweierlei: Erstens: Bei einem Frieden, der nicht mit Sicherheit einher geht, schweigen höchstens – vorübergehend – die Waffen, die Ursachen für den Unfrieden, die Verhältnisse, in denen Gewalt bis hin zu bewaffneten Auseinandersetzungen gedeiht, bleiben aber bestehen. Zum anderen steht eine Sicherheit, die nicht auf Frieden basiert, auf tönernen Füßen. Sie kann schon bei geringeren Anlässen in Unsicherheit und Gewalt umschlagen. Ein tragfähiger Frieden – um nicht das Modewort „nachhaltig“ zu verwenden – und eine tragfähige Sicherheit gehen also Hand in Hand und bedingen einander.
(2) In der im Dezember 2003 vom EU-Gipfel verabschiedeten „Europäischen Si- cherheitsstrategie“ wird aus dieser dialektischen Beziehung eine eindimensionale Kausalbeziehung, wenn es heißt: „Sicherheit ist eine Vorbedingung für Entwick- lung.“ Ist nicht auch Entwicklung eine Bedingung für Sicherheit – wie zumindest in der entwicklungspolitischen Diskussion der EU-Staaten bekannt ist? Entwicklung ihrerseits setzt das Vorhandensein bzw. die Schaffung bestimmter entwicklungsfördernder Strukturen voraus, die in erster Linie von den ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse vorgegeben sind. Johan Galtung hat vor fast 40 Jahren mit der Einführung des Begriffs der „strukturellen Gewalt“ auf die spezifischen Gewaltbeziehungen in Gesellschaften aufmerksam gemacht. Frieden und Gewaltverzicht sind danach solange prekär und „unsicher“, wie nicht die in den gesellschaftlichen Strukturen verborgenen Gewaltverhältnisse aufgebrochen und beseitigt sind. Galtung geht sogar noch weiter, indem er sagt, dass Unfrieden nicht nur dann herrscht, wenn – für alle sichtbar – physische Gewalt angewandt wird, sondern immer auch dann, wenn strukturelle Gewalt vorliegt, etwa in Form von ökonomischer Ausbeutung, extremer sozialer Ungleichheit, rassischer und/oder geschlechtlicher Diskriminierung oder politischer, weltanschaulicher und religiöser Verfolgung. Zentral ist dabei die These, dass es keine Hierarchie von Gewaltzuständen geben darf, dass die eine Gewalt nicht gegen die andere Gewalt ausgespielt werden kann. Das Ziel Frieden ist nur in einem Prozess der Beseitigung von Gewaltverhältnissen zu erreichen.
(3) Diese Vorstellung eines umfassenden positiven Friedens, die sich nicht mit der Abwesenheit von Krieg oder anderer physischer Gewalt begnügt, liegt auch dem Gründungsdokument der Vereinten Nationen zugrunde: In Artikel 1 Abs. 3 der UN-Charta wird als Ziel der Staatengemeinschaft formuliert, „eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Men- schenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Ge-
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schlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen.“ Dieser „positive Frieden“ kann nur durch die Förderung nachhaltiger Entwicklungsstrategien, den Abbau sozialer Disparitäten und die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse sowie der Verwirklichung rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien prozessual erreicht werden.
(4) Frieden und Sicherheit sind somit auch keine statischen Zustände, die, einmal erreicht, das Ende der Geschichte bezeichnen. Menschliches Leben, das in allen bisherigen Gesellschaftsformationen wesentlich mehr mit (unterschiedlicher) Inte- ressenwahrnehmung als mit Harmonie zu tun hatte, bleibt weiterhin konflikthaft. Konflikte, so lässt sich ohne anthropologische Verkürzung sagen, wird es immer geben. Ziel von Friedenspolitik nach Außen und Innen muss es sein, die gesell- schaftlichen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit vorhandene und immer wieder neu entstehende Konflikte nicht gewaltsam, sondern rechtsstaatlich, zivil und damit menschengerecht ausgetragen werden. Hier setzt unser Verständnis von ziviler Konfliktbearbeitung an. Problematisch ist dagegen der häufig verwendete Begriff der „Konfliktprävention“, da er suggeriert, Konflikte grundsätzlich vermeiden zu können.
(5) Die Europäische Union versucht seit geraumer Zeit, eine „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) zu formulieren und mittels der ESVP („Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“) in praktische Politik umzusetzen, die auf dem Grundsatz beruht, Sicherheit für die EU und Frieden in der Welt seien ohne Einsatz militärischer Gewalt und Machtmittel nicht zu erreichen. Dabei orientieren sich die EU und die Mitgliedstaaten an kurzfristigen und bisweilen widersprüchlichen Interessen. Dies nicht nur auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch in der Handels-, Finanz- und Außenwirtschaftspolitik, wobei es gleichgültig ist, ob sich die EU-Staaten hier im Rahmen des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank oder der Welthandelsorganisation bewegen. Die herrschende neoliberale Weltwirtschaftspolitik trägt dazu bei, ökonomische Abhängigkeiten, soziale Ungleichheit und regionale Disparitäten zu vertiefen und in neuer Qualität zu erzeugen, mithin strukturelle Gewalt im Galtung’schen Sinn zu zementieren. Die daraus resultierenden Konflikte, sofern sie sich gewaltförmig äußern, sollen dann mit einer militärisch gestützten „Sicherheitspolitik“ beantwortet werden. Damit wird aber nicht nur das Ziel, Gewalt einzudämmen, verfehlt, sondern neue Gewalt generiert. Das Symptom wird zum Objekt militärischen Handelns, die Ursachen bleiben oder werden verstärkt.
(6) Eine alternative Sicherheitsstrategie der EU, die gleichzeitig Friedensstrategie sein will, muss sich daran messen lassen, ob sie über das Ziel der Kriegsverhinde- rung hinaus einen Beitrag zum Abbau struktureller Gewalt leistet (vgl. hierzu die Ergebnisse des in 10 Bänden dokumentierten Forschungsprogramms der ÖSFK „Friedensmacht Europa“). In den internationalen Beziehungen heißt das, alles zu
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unterlassen, was die reale Kluft zwischen der „Ersten“ und der „Dritten Welt“ vergrößern könnte, und all jene Bedingungen zu fördern, die den Staaten und Ge- sellschaften der Welt eine selbstbestimmte Entwicklung und eine gleichberechtigte Mitwirkung in der Staatengemeinschaft auf der Basis gegenseitiger Sicherheit ermöglicht.
(7) Eine alternative Sicherheitsstrategie der EU impliziert auch Sicherheit vor Eu- ropa. Sie darf sich demnach nicht nur mit Mutmaßungen darüber aufhalten, wo und wodurch die „Sicherheit“ der EU außerhalb der EU in Gefahr geraten könnte, sondern sie muss auch und vor allem darauf achten, dass sie nicht selbst zum Si- cherheitsrisiko für Staaten außerhalb der EU-Grenzen wird. Eine konsistente alternative Sicherheitsstrategie zeichnet sich also dadurch aus, dass sie sich selbst physischer Gewaltanwendung enthält und sowohl im Inneren als auch in den Außenbeziehungen zum Abbau struktureller Gewalt beiträgt.
Die Probleme dieser Welt sind vor allem ziviler Natur
(8) In allen Lageanalysen der sicherheitspolitischen Strategie- und Grundsatzpa- piere, sei’s der NATO, sei’s der Europäischen Union, wird nicht-militärischen Aspekten von Sicherheit/Unsicherheit die größte Aufmerksamkeit gezollt. Jeden- falls gilt dies seit dem Ende der Blockkonfrontation. Die damals von Politik und Militär in ihre Strategie aufgenommene „Erweiterung des Sicherheitsbegriffs“ trug einerseits der Tatsache Rechnung, dass nach der Epoche der gegenseitigen militärischen und atomaren Bedrohung die Vorstellung weit verbreitet war, dass nun das Ende, oder doch zumindest der Anfang vom Ende atomarer und konventioneller Hochrüstung gekommen sein müsste. Die Rede war von der „Friedensdividende“, die es jetzt einzufahren gälte. Andererseits wurden mit dem jähen Zusammenbruch mancher Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa, die dem kapitalistischen Markt schutzlos ausgeliefert waren, neue gesellschaftliche und ökologische Verwerfungen sichtbar, die nach zivilen, nämlich ökonomischen, sozialen und ökologischen Lösungen verlangten. Militärische Optionen schienen hierin zunächst keinen Platz zu haben. Das Militär selbst suchte nach neuen „Einsatzfeldern“ und begann dabei in zivilen Bereichen zu wildern. In der Bundesrepublik Deutschland z.B. wurde über die Idee diskutiert, militärische Einheiten zu gründen, die sich dem Umwelt- und Ressourcenschutz widmen sollten, sog. „Grünhelme“.
(9) Der Traum von der Friedensdividende dauerte nicht lange. Spätestens mit den offenen sozialen und politischen Konflikten in Rumänien, in der Sowjetunion (und seit 1991 in Russland), in Jugoslawien und in anderen ehemaligen mittel- und osteuropäischen Staaten sowie mit den sich verschärfenden Auseinandersetzungen in anderen Teilen der Welt, insbesondere in vielen entkolonialisierten Ländern Afrikas und Asiens, wurden wieder verstärkt militärische Optionen und Strategien ins Kalkül gezogen. Angesichts realer
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massenhafter menschlicher Tragödien im Irak (1991), in Somalia, im Kongo, im Sudan, in Sierra Leone oder in Osttimor – vom Balkan war schon die Rede – wurde zwecks Legitimation militärischer Einsätze der Begriff der „humanitären Intervention“ geprägt. Der Einsatz von Militär, mithin das Führen von Kriegen, wird so schleichend wieder zum normalen Mittel der Politik. Dass solche Einsätze, selbst wenn sie sich auf ein UN-Mandat stützten, nicht selten in einem Fiasko endeten (Somalia, Haiti, Kosovo) gehört zu den viel zu wenig beachteten, geschweige denn aufgearbeiteten Niederlagen dieses ebenso simplen wie falschen Theorems.
(10) Weiterentwickelt und verfeinert wurde die Debatte um die Kriegsursachen, deren positive Spiegelung einen ersten Hinweis auf notwenige Friedensvorausset- zungen gibt: Wer die Ursachen von Krieg, Bürgerkrieg, bewaffneter Gewalt und Terrorismus beseitigt, schafft wesentliche Voraussetzungen für eine friedliche Entwicklung. Immer deutlicher wurde dabei, dass es sich in der Regel um kom- plexe Ursachenbündel handelt, um Ketten rückgekoppelter und sich dadurch ver- stärkender ökonomischer, sozialer und ressourcialer Probleme. Der vom UN- Generalsekretär 1994 herausgegebenen „Agenda für Entwicklung“, in der die Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung der Staaten in der sog. Dritten Welt thematisiert werden, liegt ein umfassender Entwicklungsbegriff zu Grunde, der verschiedene Dimensionen einschließt: die Erhaltung des Friedens, wirtschaftliches Wachstum, dessen Früchte der gesellschaftlichen Wohlfahrt und dem technologischen Fortschritt zugute kommen sollen, Umwelt- und Ressourcenschutz, soziale Gerechtigkeit sowie Demokratie, Partizipation und „gute Staatsführung“. Diese fünf Dimensionen sind untrennbar miteinander verbunden und können demnach auch nur durch eine Entwicklungspolitik „aus einem Guss“ bearbeitet werden:
„Jede einzelne Dimension der Entwicklung ist für den Erfolg der jeweils anderen unerlässlich und von entscheidender Bedeutung für das zentrale Konzept des auf den Menschen ausgerichteten Fortschritts. Eine erfolgreiche Entwicklung ist nicht möglich, wenn eine Dimension für sich allein verfolgt wird, und keine dieser Dimensionen kann aus dem Entwicklungsprozess ausgeschlossen werden. Ohne Frieden kann die menschliche Tatkraft auf lange Sicht nicht produktiv eingesetzt werden. Ohne Wirtschaftswachstum wird es an den Ressourcen fehlen, die notwendig sind, um die Probleme anzupacken. Ohne eine gesunde Umwelt wird die Produktivität die Grundlagen für den menschlichen Fortschritt verzehren. Ohne soziale Gerechtigkeit werden die Ungleichheiten alle noch so großen An- strengungen zur Herbeiführung positiver Veränderungen zunichte machen. Ohne politische Mitbestimmung in Freiheit werden die Menschen ihr eigenes und ihr gemeinsames Schicksal nicht mitgestalten können.“ (Agenda für Entwicklung, Ziffer 211)
(11) Bereits 20 Jahre zuvor hatte eine gemeinsame Konferenz von UNEP (United Nations Environment Programm) und UNCTAD (UN-Conference on Trade and
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Development), die auf Drängen der Entwicklungsländer im mexikanischen Co- coyoc zustande gekommen war, auf die Lebensumstände des Menschen als dem entscheidenden Faktor jeglicher Entwicklung hingewiesen. In der „Cocoyoc- Erklärung“ von 1974 hieß es u.a.:
„Menschen haben bestimmte Grundbedürfnisse: Nahrung, Unterkunft, Kleidung, Gesundheit und Bildung. (…) Wir befinden uns noch in einem Stadium, wo das Hauptanliegen der Entwicklung ist, wie weit die elementaren Bedürfnisse der ärmsten Teile in der Gesellschaft, die bis zu 40 Prozent der Bevölkerung ausma- chen können, befriedigt werden können. Hauptziel des wirtschaftlichen Wachs- tums sollte es sein, die Verbesserung der Lebensbedingungen dieser Gruppen sicherzustellen.“ (Zit. nach Nohlen 1992, S. 147)
Mit dieser Erklärung verwarfen die zuständigen Sonderorganisationen der Verein- ten Nationen die damalige Fixierung der traditionellen Entwicklungspolitik auf abstrakte wirtschaftliche Wachstumsziele und forderten stattdessen einen ganzheitlichen Ansatz, der neben Wachstum die soziale und „lebensumständliche“ Komponente des Wirtschaftens betonte und im Sinne einer herzustellenden „gerechten Weltwirtschaftsordnung“ auch massive globale Umverteilungsprozesse zugunsten der Entwicklungsländer verlangte.
(12) Auch wenn der Begriff der „gerechten Weltwirtschaftsordnung“ im Zuge der neoliberalen „Neuordnung“ der Welt nach 1989/90 aus der Mode gekommen ist: Der ganzheitliche Ansatz in der Entwicklungspolitik hat überlebt und in den 80er und 90er Jahren sogar noch zahlreiche Bestätigungen und Ergänzungen gefunden. Zu erinnern ist an den unter dem Vorsitz von Willy Brandt erarbeiteten Bericht der „Nord-Süd-Kommission“ (1980), an den sog. Brundtland-Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ von 1987, in dem der fortgesetzten Umweltzerstörung das Prinzip der „Nachhaltigkeit“ (sustainable development) entgegengesetzt wurde, an den 1990 in Caracas vorgelegten zweiten Bericht der „Nord-Süd-Kommission“ (sog. „Nyerere-Bericht“, unter Leitung des ehemaligen Präsidenten Tansanias, Julius Nyerere), an den 1991 in Gang gesetzten „Rio“-Prozess und an die Übernahme des Konzeptes „menschlicher Entwicklung“ durch das UNDP seit 1990. All diesen Konzepten ist gemeinsam, dass sie von einem qualitativen Wachstumsbegriff ausgehen, Entwicklungspolitik als Gesellschafts- und Umweltpolitik begreifen und in der Bekämpfung der Armut den wichtigsten Hebel für menschliche Entwicklung sehen. Die Millenniums-Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 2000 sieht hierin die größte Herausforderung für das laufende Jahrhundert.
Armut und Reichtum
(13) Armut meint nicht nur Einkommensarmut (die Unterschreitung der berühmten 1-Dollar-pro-Tag-Grenze), sondern muss mit anderen Formen physischer und psychischer Verelendung zusammen betrachtet werden. UNDP
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hat hierfür 1990 ein Indikatorensystem entwickelt (und in der Folge vervollkommnet), das Einschränkungen in zentralen Aspekten des menschlichen Lebens erfasst: in der Lebenserwartung (frühe Sterblichkeit), der Fähigkeit Wissen zu erwerben und mit anderen Menschen ungehindert kommunizieren zu können (Analphabetismus), der allgemeinen Versorgungslage (fehlender Zugang zu Trinkwasser und Untergewichtigkeit von Kindern). Gemessen an diesem Armutsindikator (HPI Human Poverty Index) hat sich die Lage in der Welt insgesamt in den letzten 20 Jahren leicht gebessert. Vertieft hat sich dagegen die Kluft zwischen den „armen“ und „reichen“ Ländern. Vor allem seit dem Ende der Bipolarität hat sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet – zwischen der „Ersten“ und „Dritten Welt“ (wozu nach Lage der Dinge einige Länder des ehemaligen „Ostblocks“ zu rechnen sind) sowie innerhalb der „Ersten Welt“. Nach Untersuchungen der Weltbank hat die Gesamtzahl der Ärmsten dieser Welt leicht abgenommen. In den „reichen“ Industrieländern, in Lateinamerika und der Karibik sowie im Nahen Osten und Nordafrika war indessen ein Anwachsen der Armutsbevölkerung zu verzeichnen. (Globale Trends 2004/05, S.49-65).
(14) Bewaffnete Konflikte im Kongo, Sudan, Sierra Leone oder Liberia – der afri- kanische Kontinent ist reich an Beispielen für Gewaltkonflikte – haben die Lebensgrundlage von Millionen und Abermillionen von Menschen weiter zerstört. Armut, Massenarbeitslosigkeit, Hunger und Migration sind zu den wesentlichen Charakteristika dieser Regionen geworden. Hinzu kommen Krankheiten und Epidemien (HIV/AIDS, Malaria), deren Ausbreitung aufgrund mangelhafter Gesundheitssysteme, fehlender Medikamente und – vor allem – mangelnder sozialer Stabilität dieser Gesellschaften kaum noch zu stoppen ist. Auch die Kindersterblichkeit – weltweit rückläufig – nimmt gebietsweise wieder zu. Die Lebenserwartung, ein wichtiger Indikator für die Wohlfahrt bzw. Misere einer Gesellschaft, ist in zahlreichen afrikanischen Ländern heute geringer als noch in der ersten Hälfte der 70er Jahre (UNDP 2004, S. 206ff). In einigen dieser Länder liegt die Lebenserwartung heute unter 40 Jahren (vgl. hierzu auch Honderich 2004). Einen Rückgang der Lebenserwartung hat es außerhalb Afrikas nur noch in einigen ehemals staatssozialistischen Ländern gegeben – möglicherweise auch eine Folge des wirtschaftsliberalen Crash-Kurses, den sich einige postkommunistische Regime auf Anraten westlicher Regierungen und internationaler Finanzorganisationen verordnet hatten. Die aus diesen Verhältnissen resultierende Gewaltförmigkeit und Instabilität betreffen in unserer globalisierten Welt trotz aller Abschottungsmaßnahmen auch die „Wohlstandsinseln“ dieser Welt. Die Folgewirkungen der Verelendung und der Zerrüttung sozialer und politischer Strukturen (z.B. Migration, Kriegsflüchtlinge, Asylsuchende) werden dann als sicherheitspolitische Bedrohungen definiert, anstatt ihnen mit den vorhandenen und zu intensivierenden entwicklungspolitischen Instrumenten zu begegnen.
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(15) Armut ist aber längst kein exklusives Problem der Dritten Welt und einiger Transformationsländer mehr. Mit der letzten Runde der EU-Osterweiterung haben sich Massenarmut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit der Jugend auch in der Europäischen Union weiter ausgebreitet und stellen die EU vor fast unlösbare Aufgaben. Im neuesten Bericht über die soziale Lage in der Europäischen Union (EU 2004) werden die Dimensionen des Problems deutlich gemacht: Am 1. Mai 2004 wuchs die Bevölkerung der Union durch die Aufnahme zehn neuer Mitgliedstaaten um 20 Prozent (auf 450 Mio. Menschen), das Bruttoinlandsprodukt erhöhte sich aber lediglich um 4,5 Prozent. Die sozio- ökonomischen Unterschiede in der EU sind größer als je zuvor. So müssen die Einwohner der Slowakei, Polens, Estlands, Lettlands und Litauens mit der Hälfte bis unter 40 Prozent des durchschnittlichen Einkommens der alten EU auskommen (BIP pro Kopf in Kaufkraftparitäten). Betrachtet man nur die Bruttomonatsverdienste von Arbeitnehmern in Industrie und Dienstleistungssektor, dann wird das Gefälle noch viel krasser: Die Monatsver- dienste in den baltischen Staaten lagen (im Jahr 2000) bei rund 300 Euro, in Un- garn, Tschechien, Slowakei und Polen zwischen 350 und knapp 500 Euro. Das entsprach etwa einem Siebtel bis einem Fünftel der Löhne und Gehälter, die in Österreich (knapp 2.000 EUR) oder in der Bundesrepublik Deutschland (2.700 EUR) erzielt wurden. Alarmierend sind auch die Arbeitslosendaten in einigen Beitrittsländern. In Polen und der Slowakei beträgt die Arbeitslosenquote nahezu 20 Prozent, ist also ähnlich hoch wie in den östlichen Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Noch schwerer wiegt das Problem der Jugendarbeitslosigkeit. In den alten Ländern der EU-15 besaßen im Jahr 2002 rund 15 Prozent der jungen Er- werbsbevölkerung keinen Arbeitsplatz; in Österreich waren es „nur“ 6,8 Prozent. Unter den neuen EU-Mitgliedern befinden sich Länder mit einer Jugendarbeitslo- senrate von rund 40 Prozent (Polen: 41,7 %, Slowakei: 37,3 %). (Datenreport 2004, S. 439) Da das Bildungsniveau (Anteil der Bevölkerung mit SEK-II-Ab- schluss) in diesen Ländern traditionell höher ist als in den westlichen Ländern – wohl ein Erbe des Sozialismus -, handelt es sich bei den meisten arbeitslosen Ju- gendlichen um schulisch gut ausgebildete Menschen, denen eine Zukunftsperspektive vorenthalten wird.
(16) Dennoch bestehen laut amtlicher Statistik keine nennenswerten Unterschiede zwischen EU-15 und den Beitrittsländern beim Ausmaß der errechneten relativen Armut. Danach gibt es in EU-15 ca. 60 Millionen Arme (15 %), in den neuen EU- Ländern acht Millionen (ebenfalls rund 15 %, ohne Ungarn und Slowakei). Die wirkliche Problemlage ist mit dieser Art der Berechnung allerdings nicht annähernd erfasst. Von „relativer Armut“ spricht die EU nämlich dann, wenn das Einkommen weniger als 60 Prozent des nationalen Medianwerts des Äquivalenzeinkommens beträgt. Würde man als Referenzwert den EU-Mittelwert heranziehen, so müssten vermutlich über 90 Prozent der Bevölkerung der neuen EU-Länder unter die Armutsschwelle fallen.
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(17) Auf der anderen Seite ist der Reichtum in den entwickelten Gesellschaften enorm weiter gestiegen. Diese Entwicklung können wir seit der industriellen Revolution beobachten: „Die Einkommensunterschiede zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern lag 1820 noch bei 3 zu 1, 1950 bei 35 zu 1, 1973 bereits bei 44 zu 1 und 1992 schließlich bei 72 zu 1.“ (UNDP 2000, S. 7) Wo so viel Armut ist, ist auch viel Reichtum. So hat sich nach UNDP-Berechnungen das Eigenkapital der 200 reichsten Personen auf der Welt zwischen 1994 und 1998 von 440 Milliarden US-Dollar auf 1.042 Milliarden erhöht, also weit mehr als verdoppelt. Diese 200 reichsten Bürger stammen zum größten Teil aus Nordamerika (65), Europa (55) und Asien/Pazifik (also v.a. Japan, 30); der Rest verteilt sich auf den buchstäblichen „Rest der Welt“ (das sind wiederum industrialisierte Staaten wie Australien, Neuseeland, Ölförderstaaten des Nahen und Mittleren Osten und erst unter „Ferner liefen“ Drittweltländer und Staaten des ehemaligen Ostblocks). Die Vermögenswerte der 200 reichsten Personen übersteigen das Gesamteinkommen von 41 Prozent der Weltbevölkerung. Diese obszöne Ungleichheit veranlasste das UNDP zu der bedenkenswerten, wenngleich immer noch sehr moderaten Rechnung: „Eine jährliche Abgabe von 1 % des Reichtums der 200 reichsten Personen (7 bis 8 Milliarden $) könnte weltweit den Zugang zur Primärbildung für alle sichern.“ (ebd.)
(18) Die zunehmenden sozialen Antagonismen in den Mitgliedstaaten der EU sind Ausdruck eines Gewaltverhältnisses, das sich im Inneren in Form zunehmender Repression äußert (Abbau von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaat- lichkeit). Dieses Anwachsen struktureller Gewaltverhältnisse bereitet den Boden für soziale Entsolidarisierung, sozial und rassistisch motivierte Ausgrenzungen und begünstigt die Zunahme von offener Gewalt. Solche Verhältnisse bleiben nicht ohne Folgen für das außenpolitische Denken und Handeln.
Umweltzerstörung und Ressourcenverbrauch
(19) In der „Agenda für Entwicklung“ beschrieb der damalige UN-Generalsekre- tär Boutros-Ghali die fünf Stützpfeiler einer nachhaltigen Entwicklung; darin wurde die Umwelt als eine der Dimensionen von Entwicklung neben Frieden, Demokratie, Gesellschaft und Wirtschaft genannt. Die Verleihung des Friedens- nobelpreises 2004 an die kenianische Umweltschützerin, Menschenrechtsaktivis- tin und Politikerin Wangari Maathai hat diesem ganzheitlichen Ansatz immerhin symbolisch Rechnung getragen. Die vor allem durch den ungezügelten Verbrauch nicht-regenerativer Ressourcen hervorgerufenen Probleme, auf die bereits der „Club of Rome“ (Meadows 1972) und „Global 2000-Der Bericht an den Präsi- denten“ von 1980 eindringlich hingewiesen hatten und die im „Brandt-„ und im „Brundtland-Bericht“ nachdrücklich thematisiert und im wesentlichen bestätigt wurden, verweisen auf die gravierenden ökologischen Folgen einer von ungezü- gelten Profitinteressen (mit-) verursachten Weltentwicklung. In den Blick gerieten
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im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts vor allem die mit dem Einsatz fossiler Brennstoffe verbundenen Auswirkungen auf das Weltklima. Der von Menschen verursachte Treibhauseffekt wird nach überwiegender Meinung der Klimafor- scher zu einer thermischen Ausdehnung des Meerwassers und zur Abschmelzung der Gletscher und damit zu einem Anstieg des Meeresspiegels führen. Davon werden die Menschen der Welt in sehr unterschiedlicher Weise betroffen. Klima- wandel und Wasserknappheit führen zur Versteppung und Verwüstung weiter Landstriche vor allem in Afrika, zu Überschwemmungskatastrophen vor allem in Südasien. Infolge der globalen Erwärmung werden sich Infektionskrankheiten wie Malaria, Cholera oder Dengue-Fieber in den warmen Klimazonen ausbreiten und Gebiete erreichen, in denen bisher solche Krankheiten nicht aufgetreten sind (vgl. Hahn/Seiler 2003, S. 21 f). Folge all dieser Veränderungen sind Hungerkatastro- phen, Migrationsströme, Ethnisierung von Konflikten, Eskalationsformen von Gewalt, die sich zunehmend ungesetzlich, unter Umständen „terroristisch“ artiku- liert.
(20) Veränderungen in der atmosphärischen Zirkulation führen zu häufigeren me- teorologischen Extremereignissen, die auch vor den gemäßigten Klimazonen nicht Halt machen. Die Europäische Union wird sich zumindest an ihren südlichen und südöstlichen Rändern mit gravierenden Standortverschlechterungen für die Landwirtschaft vertraut machen müssen (Versteppung, Bodenerosion). Versicherungsgesellschaften weisen seit einigen Jahren mahnend darauf hin, dass sich die Anzahl der durch Wetterextreme wie z.B. Sturmfluten, Starkniederschläge, Hitzeperioden und Dürren verursachten Katastrophen in den letzten 40 Jahren mehr als verdreifacht hat. Ebenso zugenommen haben die Folgeereignisse (Erdrutsche, Überschwemmungen, Brände usw.), die sich für die Versicherungen als Schadensfälle darstellen. So wurde etwa errechnet, dass sich die volkswirtschaftlichen Schäden der Naturkatastrophen 2001 in Europa, bei denen immerhin rund 25.000 Menschen ums Leben kamen, auf 36 Mrd. Euro beliefen (vgl. Hahn/Seiler 2003, S. 11).
(21) Die Klimaschutzpolitik stand bisher vor dem Dilemma, dass diejenigen Län- der, die am stärksten unter der Klimaänderung zu leiden haben, selbst am wenigs- ten zum Anstieg der Treibhausgas-Konzentration beitragen, während die Länder, die für den größten Teil der CO2-Emmissionen verantwortlich sind, nämlich die Industrieländer, von den Klimaänderungen nur geringfügig getroffen werden. Im statistischen Durchschnitt stößt jede Person in den USA pro Jahr rund 20 Tonnen Kohlendioxid aus, in Europa sind es etwa die Hälfte. In einem Land wie Mali da- gegen liegt der Pro-Kopf-Ausstoß bei lediglich 0,4 Tonnen. (Globale Trend 2004/05, S. 200). Eine CO2-Reduzierungs-Politik verlangt also von den Industrie- ländern Nordamerikas und Europas, künftig aber auch von den Schwellenländern die größten Anstrengungen. Die Umsetzung des Kyoto-Protokolls – dies sieht für die beteiligten Staaten eine Reduktion bis 2012 um 5,2 % vor – ist nur der be- rühmte Tropfen auf den heißen Stein. Sowohl das Wissen als auch die technologi-
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schen Voraussetzungen für einen effektiveren Klimaschutz sind vorhanden – sie müssen nur eingesetzt und das heißt gegen die wirtschaftlichen Interessen großer Energieerzeuger und großer Primärenergielieferanten durchgesetzt werden. Die möglichen Maßnahmen umfassen den verstärkten Einsatz CO2-freier Techniken, die Rationalisierung und Effektivierung der Energienutzung (Vermeidungsstrate- gie) und die verstärkte Nutzung regenerativer Energien („Solarisierung“). Mit dem „Richtlinienvorschlag für ein System zum Handel mit Treibhausgasemissio- nen in der EU“ vom 9. Dezember 2003 ist die EU weiter gegangen als Kyoto, bleibt aber noch weit hinter den Erfordernissen einer nachhaltigen Energiewende zurück. Dennoch sollte das auch im Emissionshandelssystem vorgesehene Prinzip Schule machen, dass Klimaschutzpolitik bindende Obergrenzen und Sanktionen bei deren Nichterfüllung festlegen muss. (Globale Trends 2004/05, S. 188 ff.)
Demokratiedefizite und gescheiterte Staaten
(22) Die 90er Jahre wurden vielfach als Jahrzehnt der Demokratisierung gefeiert. In der Tat war diese Zeit von einem rasanten Umbau politischer Strukturen in den ehemals sozialistischen Staaten verbunden, die alle das Ziel verfolgten, ihre Insti- tutionen „westlichen“ Demokratie-Vorstellungen anzugleichen. Mit der Aufnahme einiger dieser Staaten in die NATO bzw. in die Europäische Union erhielten sie sozusagen ihr „Demokratie-Zertifikat“. Fragen wir indessen nach den Bedingungen der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe der Bevölkerungsmehrheiten in den Transformationsgesellschaften Mittel- und Osteuropas, so wird das Urteil wohl etwas nüchterner ausfallen. Was diesen Ländern vor allem fehlte und bis heute fehlt, sind echte Wahlmöglichkeiten, Alternativen zum Gang in die „Weltmarktfalle“, in die NATO, in die kollektive Arbeitslosigkeit, in die Abhängigkeit von Weltbank und Internationalem Währungsfonds.
(23) Weltweit haben in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts demokrati- sche Regime stark zu- und autokratische Regime entsprechend abgenommen. Nach dem Ost-Westkonflikt haben sich 81 Staaten für die Demokratisierung ihrer Regime entschieden. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute bereits in – zumindest formal – demokratisch verfassten Staaten. Doch was nutzt das, so möchte man provokant fragen, den Menschen südlich der Sahara, die nach UNDP-Berechnungen im Jahr 1999 zu 77 Prozent in Ländern mit einem Mehrparteiensystem leben? (UNDP 2002.) Und was sagt ein Mehrparteiensystem über die Qualität einer Demokratie aus? Demokratie herrscht nach einer Definition von UNDP dann, wenn folgende Kriterien erfüllt werden:
– Achtung der grundlegenden Menschenrechte; – Menschen entscheiden über Dinge mit, die sie betreffen;
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– Die gesellschaftlichen Beziehungen werden durch faire Regeln, Institutio- nen und Praktiken geregelt;
– Frauen sind in privaten und öffentlichen Lebensbereichen und politischen Entscheidungsprozessen gleichberechtigt;
– Niemand darf wegen seines Geschlechts-, seiner Religions-, Klassen- oder ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert werden;
– Die aktuelle Politik beachtet die Bedürfnisse der nachkommenden Generationen;
– Die jeweilige Wirtschafts- und Sozialpolitik zielt auf die Überwindung von Armut und auf die Herstellung von Chancengleichheit. (UNDP 2002, S. 57)
Diesen Kriterien vermag kaum eine „reife“ Demokratie zu genügen. Um wie viel weniger dürfte es Entwicklungsländern gelingen, ihnen gerecht zu werden ange- sichts zunehmender Entsouveränisierung durch internationale Institutionen und Regime wie Internationalem Währungsfonds, Weltbank und Strukturanpassungs- programmen? Auch sie müssten, einer Forderung von UNDP entsprechend, demokratisiert werden, d.h. transparenter und ihrer eigenen Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtiger gestaltet werden. (UNDP 2002, S.1-11). Die Demokratisierung internationaler Organisationen darf auch vor den Vereinten Nationen und ihren Unter- und Sonderorganisationen nicht Halt machen. Die West- und Europalastigkeit des UN-Sicherheitsrats z.B., insbesondere was die fünf ständigen Mitglieder betrifft, müsste zu Gunsten einer stärkeren Repräsentanz der Dritten Welt aufgebrochen werden (siehe hierzu weiter unten Ziff 65 und 66).
(24) Neben der „Demokratisierung“ der Welt gibt es seit Jahren einen anderen Trend, der die Weltverhältnisse zunehmend prägt: Es vermehrt sich die Zahl der „gescheiterten Staaten“ („failed states“). Darunter sind Staaten zu verstehen, die nicht mehr die Bedingungen von Staatlichkeit erfüllen und nicht mehr in der Lage sind, ihr Gewaltmonopol innerhalb ihres Territoriums auszuüben und der Allge- meinheit „politische Güter“ bereitzustellen wie Sicherheit, Ausbildung, Gesund- heitsdienste und ökonomische Entfaltungsmöglichkeiten. Staaten, in denen es kei- nen rechtlichen Rahmen für die öffentliche Ordnung und kein allgemeingültiges Rechtssystem gibt. Staaten, in denen Justiz zur Selbstjustiz verkommt und Kriegs- herren (warlords) auf eigene Rechnung morden und plündern. Schließlich ist auch für andere Staaten sowie für internationale Organisationen nicht mehr erkennbar, wer in den failed states Verhandlungs- und Vertragspartner sein kann, der interna- tionale Konventionen und Verträge verlässlich umzusetzen in der Lage ist. In der Europäischen Sicherheitsstrategie werden die gescheiterten Staaten als ein wesentliches globales Sicherheitsrisiko dargestellt, in deren Windschatten Drogenhandel, Menschenhandel und andere Formen der Kriminalität sich relativ ungehindert ausbreiten können.
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(25) Kann oder will „der Staat“ materielle Sicherheit (im umfassenden Sinne von Ernährung, Gesundheit, Erziehungswesen, Wohnung etc.) gar nicht mehr oder nur noch Wenigen zur Verfügung stellen, dann werden Konflikte gewaltsam und führen fast logischerweise zu Bürgerkriegen, ja Vertreibungskriegen bis hin zum Völkermord. Dies gilt für die Konflikte auf dem Balkan ebenso wie für zahlreiche Konflikte in Afrika und anderswo. Unter solchen ökonomischen Gesichtspunkten erhält die zu beobachtende Ethnisierung von Konflikten ihren tieferen Sinn (vgl. Elwert in Ruf 2003): Sie sind nicht Ursache, sondern Folge und Erscheinungsform der Konflikte und werden oft inszeniert mit dem Ziel, Unterstützung zu mobilisieren und Kämpfer zu rekrutieren. Und in prekären Gesellschaften, in denen der Kampf um spärliche Ressourcen an der Tagesordnung ist, ist solcherart „Ethnisierung“ durch Diskriminierung bzw. Privilegierung bestimmter Gruppen, durch gezielte Gewalt gegen Minderheiten oder Mehrheiten oft leicht und schnell herstellbar. Im Zeitalter der Bipolarität war der Erhalt von Staatlichkeit für die damaligen Supermächte wichtige Voraussetzung für ihre Blockpolitik und die Bildung von (konkurrierenden) Allianzen, sei es um den Preis, ausbeuterische und kleptokratische Regime an der Macht zu halten. Mit dem Ende der Bipolarität verloren diese Regime allerdings ihren Erhaltungswert für die Supermächte, Budget- und Militärhilfen gingen zurück, Misswirtschaft, Korruption und Repression der meisten Dritt-Welt- Regime verloren ihren internationalen Rückhalt. Die zu beobachtende Steigerung der Gewaltförmigkeit hat also in zahlreichen Ländern der vormaligen Dritten Welt durchaus auch interne und selbst verursachte Gründe. Sie muss aber auch verstanden werden im Rahmen der globalpolitischen Konstellation der Kalte- Kriegs-Zeit und der herrschenden Weltwirtschaftsordnung, die sich über Jahrhunderte herausgebildet hatte und für die André Gunder Frank den treffenden Titel „Entwicklung der Unterentwicklung“ fand (Frank 1980).
(26) Wahlenthaltung ist in den meisten, vor allem aber in den neuen EU-Staaten zu einem gesellschaftspolitischen Problem geworden. Sie verweist einmal auf das weit verbreitete Gefühl, über die Stimmabgabe doch keinen wirklichen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können. Zum anderen wird auch den politischen Repräsentanten nicht mehr zugetraut, gesellschaftliche Prozesse tatsächlich gestalten zu können. Ralf Dahrendorf stellte vor kurzem fest, „dass in zunehmendem Maße Entscheidungen nicht von Staaten, auch nicht von Staatengemeinschaften, auch nicht von internationalen Organisationen getroffen werden, sondern von großen Unternehmen – also von Instanzen, die gar nicht so recht hineinpassen in das Lehrbuch der Politik.“ (Dahrendorf 2005, S. 290.) Galt in EU-Europa schon bisher die Brüsseler Kommission als demokratisch nicht legitimierte und zudem den Bürgern weit entrückte bürokratische Behörde, so wird diese Einschätzung durch die EU-Verfassung noch verstärkt: Zahlreiche Bestimmungen, die eine Liberalisierung der nationalstaatlichen Wirtschaftspolitiken fordern, machen die EU mehr und mehr zum Sachwalter
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privatkapitalistischer Interessen. Hinzu kommt, dass dem Souveränitäts- und Autonomieverlust der Nationalstaaten ein EU-Parlament gegenübersteht, das in seinen Rechten gegenüber Rat und Kommission trotz einzelner Verbesserungen nach wie vor stark beschnitten ist und dem Prinzip der Gewaltenteilung und demokratischer Kontrolle nicht entspricht.
Defizite und Widersprüche der EU-Politik
Die EU stellt sich als Wertegemeinschaft dar, die der Durchsetzung von Rechts- staatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten verpflichtet ist. Die konkrete Ausgestaltung der Innen-, aber insbesondere auch der Außenpolitik muss sich an diesen Kriterien messen lassen. Im konkreten Handeln zeigen sich hier auf den verschiedensten Politikfeldern erhebliche Widersprüche.
Menschenrechte und Asylpolitik
(27) Auch wo Staatlichkeit funktioniert, ist die Zunahme von Gewaltförmigkeit zu beobachten, wie die Jahresberichte etwa von amnesty international oder Human Rights Watch eindrücklich belegen. Oft dient die Anwendung von Gewalt wie Folter, Vertreibung, „Verschwinden lassen“ gerade dazu, das staatliche Gewaltmonopol – zum Zwecke der Plünderung der Ressourcen des Landes durch die Herrschenden – gewalttätig aufrecht zu erhalten.
(28) Die Menschenrechte nehmen im Diskurs der EU eine zentrale Rolle ein. Jen- seits der allgemeinen Entwicklungen in der Folge des 11. September 2001, die in nahezu allen Staaten der EU zu einem Abbau der bürgerlichen Rechte und zu ver- mehrten Kompetenzen der Sicherheitsdienste geführt haben, stellen das Asyl- und das Einwanderungsrecht international gültige Konventionen in Frage, die von den Regierungen der EU-Staaten unterzeichnet und ratifiziert wurden (Grundrechte- Report 2004): Die Konventionen von Schengen haben den Grenzen Europas Fes- tungscharakter verliehen. Die so genannte „Drittstaatenregelung“ hebelt das Asyl- recht, wie es in den Genfer Konventionen festgeschrieben ist, zum Teil wieder aus, da es Flüchtlinge daran hindert, ein rechtsstaatliches Verfahren zur Anerkennung in den Ländern der Union überhaupt durchführen zu können. So waren die Massenabschiebungen aus Italien nach Libyen im Oktober 2004 ohne eine Asylprüfung ein eklatanter Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention. Nach der Osterweiterung der EU sind die angrenzenden Drittstaaten Länder wie Albanien, Bulgarien, Moldawien, Russland, Ukraine oder Weißrussland. Der Beschluss der EU-Innenminister vom 29. April 2004 macht es möglich, dass einzelne EU-Länder diese Staaten zu „sicheren Drittstaaten“ erklären können. Zwar hat die Mehrzahl dieser Länder die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet und ratifiziert, dies sagt jedoch wenig über die tatsächliche Praxis:
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Immerhin sind diese Staaten selbst Herkunftsländer zahlreicher Verfolgter und Asylsuchender.
(29) Noch gravierender sind die im Sommer 2004 vom deutschen Innenminister Schily ins Gespräch gebrachten und von einigen Mittelmeeranrainern der EU be- gierig aufgegriffenen Überlegungen zur Errichtung von Lagern in den Staaten des Maghreb, um die Fluchtbewegungen über das Mittelmeer zu verhindern. Die Be- richte von amnesty international und Human Rights Watch und vielen anderen NGOs bescheinigen gerade diesen Staaten systematische und besonders gravie- rende Menschenrechtsverletzungen. Sie sind selbst Herkunftsländer einer großen Zahl von Flüchtlingen, die nicht nur aus Schwarzafrika stammen, sondern gerade auch aus diesen Ländern selbst, die sie aus Angst um ihre physische Unversehrtheit und ihr Leben verlassen. Nun aber sollen diese Staaten zu privilegierten Kooperationspartnern der EU in Fragen der Menschenrechte gemacht werden! Vor allem aber werden mit der territorialen Auslagerung des Asylverfahrens in Lager außerhalb der EU die rechtsstaatlichen Mindestgarantien des Asylverfahrens ausgehebelt, das vorsieht, dass Flüchtlinge ihre Fluchtgründe einer unabhängigen Stelle vortragen können und negative Entscheidungen von einer Berufungsinstanz geprüft werden müssen. Die wenigen Menschen, die beispielsweise Asyl in der Bundesrepublik Deutschland erhalten, haben dieses Recht so gut wie ausschließlich in diesen Berufungsinstanzen erkämpft. In den vorgesehen Lagern würde nur noch administrativ entschieden, das inländische Berufungsgericht bleibt für die Betroffenen unerreichbar.
(30) Die immer wieder auf die Grundsätze der Humanität, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie verweisenden Staaten der EU müssen sich hier an ihren An- sprüchen messen lassen, denn es geht um die Glaubwürdigkeit ihrer Politik: Die Genfer Flüchtlingskonvention, entstanden nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Taten der Nazi-Barbarei, sichert den individuellen Schutzanspruch für Menschen. Ihre Aushebelung ist nicht nur ein Verstoß gegen das Völkerrecht, sie unterminiert auch das beschworene humanistische Fundament EU-Europas. Darüber hinaus beschädigt sie die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU, da das Recht des Individuums auf Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt zumindest im Bereich des Asylrechts abgeschafft wird. Mittelbar wirft sie die Frage auf, mit welchem Recht die EU sich darauf berufen kann, militärisch zu intervenieren, „bevor es zu humanitären Krisen kommt“, also Menschenrechte militärisch zu erzwingen, wenn sie selbst an und innerhalb ihrer Grenzen Völkerrecht und Rechtsstaatlichkeit missachtet. Hinter solcher Politik verbirgt sich ein nicht auf rechtlichen Grundsätzen der Gleichheit und der Rechtsstaatlichkeit basierendes Denken, sondern eine auf Arroganz beruhende Selbstanmaßung der eigenen (zivilisatorischen) Überlegenheit. In dem Maße, in dem das „Wir“ (die Europäer) den Anspruch erhebt, höherwertig zu sein als „die Anderen“, wird ein Dominanz- Anspruch erhoben, der zugleich dazu dient, die materiellen Interessen zu verdecken, die hinter diesem Anspruch stehen. Damit machen die EU-Staaten
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aber zugleich die von ihnen immer wieder von den Anderen eingeforderten Prinzipien unglaubwürdig, da diese nur dann Gültigkeit und Glaubwürdigkeit beanspruchen können, wenn sie ihren Universalismus nicht infrage stellen.
Terrorismus und „Anti-Terror-Krieg“
(31) Seit dem 11. September 2001 bedeutet Terrorismus eine internationale Bedrohung nicht nur für die USA sondern auch für die Europäische Union. In der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) wird Terrorismus als eine der fünf Hauptbedrohungen (neben der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionalen Konflikten, dem Scheitern von Staaten und der organisierten Kriminalität) für die Europäische Union genannt. Obwohl es keine allgemeingültige Definition des Terrorismus gibt, haben die EU und die USA in ihren jeweiligen Sicherheitsstrategien (NSS, ESS und homeland security) ziemlich genaue Vorstellungen darüber, was für sie Terrorismus ist und wogegen die USA Krieg führen. Nach den Terrorismus-Definitionen der USA oder EU, wonach es drei Merkmale des modernen Terrorismus gibt: privatisierte Gewalt, Gewaltanwendung gegenüber Zivilisten und das Vorhandensein informeller Netzwerkstrukturen (Schreiber 2003, S. 12), kann der Terrorismus-Vorwurf nahezu beliebig erhoben werden.
(32) Dieser Beliebigkeit ist entgegen zu halten: Erstens: Was heute unter „Interna- tionalem Terrorismus“ firmiert, ist in vielen Fällen nichts anderes als eine – wenn auch sehr massive – Erscheinungsform politisch motivierter Gewalt, die darauf abzielt, politischen Einfluss zu erlangen unter Bedingungen, da Wege der friedli- chen Konfliktbewältigung über demokratisch- rechtsstaatlich-völkerrechtliche Strukturen weitgehend versperrt bzw. wirkungslos sind. Zweitens: Das legitime Recht auf Widerstand gegen politische Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit ist u. a. bereits in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dem deutschen Grundgesetz enthalten. Drittens: Hieraus folgt, dass eine international akzeptable Anti-Terrorismus-Strategie sich einer klaren Abgrenzung von ‚legitimem Widerstand’ und ‚Terrorismus’ als Grundlage ihres Handelns nicht entziehen kann. Grundlage hierfür sollte die Leitlinie sein, dass legitimer Widerstand sich sowohl auf politischer Unterdrückung als auch sozialer Ungerechtigkeit gründet, aber nicht alle Widerstandsformen legitimiert, wie dies in der Resolution der UN-Generalver- sammlung 42/159 vom 7. 12. 1987 festgeschrieben wurde: Gewalt gegen unbetei- ligte Zivilisten ebenso wie völkerrechtlich geächtete Praktiken können ebenso wenig Mittel legitimen Widerstandes sein wie Mittel akzeptabler Anti- Terrorismus- Bekämpfung. Terror(ismus) geht schließlich nicht nur von Privatpersonen, Banden, sonstigen „privaten“ Organisationen aus, sondern ist mitunter auch geübte Praxis von Staaten, z.B.: Häuserzerstörungen und gezielte Tötungen durch Militäreinheiten, Sicherheitskräfte etc. oder völkerrechtswidrige Aggressionen, Bombardierungen usw.). So löste der „Anti-Terror-Krieg“ der
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USA und ihrer Verbündeten bisher nur weitere terroristische Gewaltakte aus, wie die Ereignisse nach dem Beginn des Irakkriegs im Frühjahr 2003 belegen.
(33) Sowohl die EU als auch die USA legitimieren mit ihrem Antiterrorkrieg ille- gale Mittel, in dem sie ihre Interessen über das Völkerrecht stellen. Diese Politik misst mit zweierlei Maß (double standards, vgl. Ruf 2004): Wer die Prinzipien des Rechts verlässt, legitimiert illegale Mittel. Der Bruch des Rechts durch diejenigen, die sich als Rechtsstaaten bezeichnen, eröffnet jenen die moralische Rechtfertigung ihres Tuns, die sich aus der Position der Unterlegenen heraus illegaler Gewalt bedienen, um ihre Ziele durchzusetzen. Genau hier besteht ein enger und gefährlicher Zusammenhang zwischen dem Abbau von Völkerrecht und Rechtsstaatlichkeit einerseits und der Förderung dessen, was er vordergründig zu bekämpfen vorgibt: dem Terrorismus.
(34) Die double standards, das Messen mit zweierlei Maß seitens der westlichen Demokratien USA und EU, die nun alle das Recht auf präventive Kriegführung fordern (und Russland scheint sich dem gerade anzuschließen), basieren auf ei- nem dichotomischen Weltbild, das nur schlecht das eigentliche Ziel, die Durch- setzung eigener Interessen verkleidet, in dem „wir“ uns selbst als „die Zivilisier- ten“ bezeichnen gegenüber den „neuen Barbaren“, den „Schurkenstaaten“, den „Terroristen (und ihren Helfershelfern)“, kurzum, den „Bösen“. Diese Argumen- tationsmuster sind so leicht popularisierbar, weil sie auf der langen Tradition der Inferiorisierung der außereuropäischen Völker fußen. So trägt die Verletzung der gerade von den Demokratien geschaffenen Rechtsnormen im innerstaatlichen wie im internationalen Verkehr in unserer asymmetrischen Welt dazu bei, den Terror als politische Kampfform auf Seiten der Schwachen zu legitimieren. Solche Poli- tik läuft Gefahr, den Verlust aller Maßstäbe zu befördern, deren wir in der globa- lisierten Welt dringender bedürfen denn je zuvor. Demokratien, und unter ihnen an vorderster Stelle die EU, erheben den Anspruch die besseren und durch eine universelle Moral legitimierten Systeme zu sein. Die immer wieder geforderte weltweite Akzeptanz können sie nur finden, wenn die Durchsetzung ihrer mate- riellen Interessen zurückgestellt wird gegenüber den Grundsätzen der universellen Gleichheit, der Menschenrechte und des Rechts.
Aufrüstung und Krieg: Weltweite Trends und europäische Politik
(35) Erste Abrüstungsvereinbarungen zwischen den beiden Supermächten USA und UdSSR hatten kurz vor dem Ende der Blockkonfrontation Hoffnung gemacht. Wie günstig stellten sich für viele Menschen in der Welt erst die Dinge dar, als mit der Auflösung des östlichen Militärbündnisses jegliche Begründung für ein Weiterrüsten entfallen war! Doch das, was die meisten Menschen damals für völlig sicher gehalten haben, nämlich dass die Welt nun abrüsten werde, ist nicht oder nur zum Teil eingetreten. Zwar sind die Weltmilitärausgaben von 1985 bis
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1996 um ca. 30 Prozent gesunken (IISS 1997), nämlich von 1,25 Billionen US- Dollar auf 725 Mrd. US-Dollar. Der Großteil solcher Abrüstung allerdings ging auf das Konto der früheren Sowjetunion, während einige NATO-Staaten mäßig abrüsteten, einige sogar noch draufsattelten (Globale Trends 2004/05, S. 275f). Diese Entwicklung ist Ende der 90er Jahre zum Stillstand gekommen und hat sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts umgekehrt.
(36) Die Terroranschläge vom 11. September 2001 wurden von der US-Regierung als Kriegserklärung aufgefasst. 9/11 erwies sich als Katalysator für eine neue Rüstungsspirale, die ihren Ausgang und wichtigsten Protagonisten in den USA hat, inzwischen aber eine globale Dynamik entfaltet. Lagen die Weltmilitärausga- ben 1996 bei 725 Mrd. US-Dollar, so stiegen sie bis 2001 auf 806 Mrd., um in den folgenden beiden Jahren einen Sprung auf 956 Mrd. Dollar zu machen. „Das ist sehr nah am Höchstwert des Kalten Krieges 1987“, sagte Friedensforscherin Elisabeth Sköns bei der Vorlage des Sipri-Jahresberichts 2004 im Juni d.J. (vgl. hierzu und zum Folgenden SIPRI 2004a). Vor allem die USA hätten ihre Militär- ausgaben wegen der Einsätze im Irak und in Afghanistan deutlich gesteigert. Ohne die Ausweitung des US-Budgets hätte die Erhöhung weltweit nur vier Prozent betragen. Die Liste der Staaten mit den höchsten Militärausgaben wird von den USA angeführt. Auf die Vereinigten Staaten entfallen 47 Prozent der weltweiten Zahlungen. Es folgen Japan mit fünf sowie Großbritannien, Frank- reich und China mit jeweils vier Prozent, auf die übrigen 153 Staaten entfallen 36 Prozent. Die reichen Industrieländer (allen voran die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats), die nur 16 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, tru- gen 2003 mit drei Vierteln der Gesamtkosten den Hauptanteil der Rüstungsausga- ben.
(37) Eine – begrenzte – Abrüstung fand auf dem Gebiet der Atomwaffen statt. Von den rund 50.000 nuklearen Sprengköpfen der strategischen Raketen der USA und der früheren Sowjetunion (1989) sind vereinbarungsgemäß „nur“ noch 15.000 übriggeblieben (USA: 8.000, Russland: 7.000). Die Mittelstreckenraketen sind vollständig, die sog. „taktischen“ Atomwaffen (Kurzstreckenraketen) um rund 90 Prozent reduziert worden. Dennoch reicht das vorhandene Arsenal immer noch aus, die Menschheit mehrmals auszurotten („Overkill-Kapazität“). Hinzu kommt, dass die Atomwaffenmächte nicht gewillt sind, den Bestimmungen des Atomwaf- fensperrvertrags zu entsprechen und in ernsthafte Verhandlungen über eine welt- weite Ächtung und Abrüstung der Atomwaffenarsenale einzutreten. Das aufse- henerregende Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom 8. Juli 1996, wonach der Einsatz von Atomwaffen und die Androhung des Einsatzes völkerrechtswidrig seien, hat die Atomwaffenmächte bisher zu keiner positiven Reaktion veranlasst. Heute scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein: Die Be- fürchtungen, dass das gegenwärtige Kriegsgeschehen eine neue Dynamik der Rüstungswettlaufs einleiten könnte, treffen zumindest in qualitativer Hinsicht auch auf die atomare Rüstung zu. Kritisiert wird in dem SIPRI-Bericht u.a. die
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Entschlossenheit der USA, die Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der „Mini-Nukes“ voranzutreiben. SIPRI schreibt: „In the USA, Congress voted to lift a decade-long ban on research work on new types of low yield and earth- penetrating nuclear weapons.“ (SIPRI 2004b.)
(38) Den europäischen Militär- und Rüstungskapazitäten wird landläufig ein nur geringes Gewicht eingeräumt. 25 Staaten, darunter Atommächte wie Großbritan- nien und Frankreich oder eine traditionell gut gerüstete Mittelmacht wie Deutsch- land bringen es bei den Militärausgaben zusammen nur auf gut 60 Prozent der Ausgaben der Vereinigten Staaten. Von interessierter Seite wird kritisiert, dass sowohl Produktionsvolumen als auch technologische Reife und Innovationsbereit- schaft der Rüstungsindustrie ungenügend seien. Dies halten wir für eine Verniedlichung der realen Kapazitäten: Schon das Europa der 15 gab 2001 mehr als 172 Milliarden US-Dollar für das Militär aus und behauptet damit hinter den USA unangefochten Platz zwei in der Welt. Damit gab die EU ebenso viel Geld für Waffen und Soldaten aus wie China, Japan, Russland, Afrika, Lateinamerika und Südasien zusammengenommen. Und ganz so rückständig kann auch die europäische Rüstungsindustrie nicht sein, wenn es ihr im Jahr 2003 erstmals gelang, die USA in der Rangliste der größten Rüstungsexporteure zu überholen. Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI errechnete für die EU-15 Exporte in Höhe von 4,7 Mrd. US-Dollar gegenüber den USA mit 4,4 Mrd. Dollar (SIPRI 2004b).
Die EU-(Militär-)Verfassung
(39) Es tut sich also etwas in EU-Europa. Bei der Debatte um die Europäische Sicherheitsstrategie und die EU-Verfassung waren sich die Regierungen der EU schnell einig: Europas Gemeinsame Außenpolitik wird zuvörderst eine Militär- und Sicherheitspolitik sein, wie dies in der ESVP deutlich wird. In der EU-Ver- fassung – die Ende Oktober 2004 von den Regierungschefs feierlich unterzeichnet wurde – sind fünf Bestandteile einer Militarisierung der EU enthalten: eine allge- meine Aufrüstungsverpflichtung, die Einrichtung einer Rüstungsagentur, das Festschreiben von Kampfeinsätzen in aller Welt, die Etablierung eines militari- sierten Kerneuropa und die Beistandsverpflichtung. Wir halten alle fünf für au- ßerordentlich problematisch, auch wenn europäische „Beschlüsse mit militäri- schen oder verteidigungspolitischen Bezügen“ einstimmig erlassen werden müs- sen (Art. III-300, Abs. 4).
(40) Allgemeine Aufrüstungsverpflichtung nach Art. 41 Abs. 3 der EU-Verfas- sung. „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.“ Zu diesem Zweck wird eine Europäische Rüstungs- agentur eingerichtet (ebd.). Auch in der ESS werden mehr Mittel für die Rüstung gefordert: „Damit wir unsere Streitkräfte zu flexibleren, mobilen Einsatzkräften
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umgestalten und sie in die Lage versetzen können, sich den neuen Bedrohungen zu stellen, müssen die Mittel für die Verteidigung aufgestockt und effektiver ge- nutzt werden.“
(41) Einrichtung einer europäischen „Rüstungsagentur“, die mittlerweile – aus kosmetischen Gründen – in “Verteidigungsagentur“ umbenannt wurde. In Art. 41, Ziff. 3 heißt es hierzu: „Es wird eine Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) eingerichtet, deren Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durch- zuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich der Fä- higkeiten und der Rüstung zu beteiligen sowie den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen.“ In Artikel III 311 werden die Aufgaben der Agentur genauer bestimmt. Im Kern geht es darum, „zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors“ vorzuschlagen und selbst zu ergreifen. Die Be- fürchtung, hier etabliere sich so etwas wir eine Kommandozentrale des militärisch-industriellen Komplexes, ist nicht von der Hand zu weisen.
(42) Festschreibung von Kampfeinsätzen in aller Welt, und zwar auch und gerade im Zusammenhang mit dem „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“. Von zentraler Bedeutung ist hierbei der Art. III-309, Ziff. 1. Hier werden zunächst die sog. Petersberg-Aufgaben benannt, d.h. die ganze Palette der möglichen Ziele für ein militärisches Eingreifen der Europäischen Union aufgezählt:
„Die in Artikel I-41 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen ge- meinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konflikt- verhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operati- onen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten.“
Der Einsatz von Militär zum Zweck der Terrorismusbekämpfung war in den Pe- tersberg-Aufgaben also nicht vorgesehen. Nun heißt es aber weiter in der Verfas- sung: „Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beige- tragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.“ Mit der Übertragung der „Terrorismusbekämpfung“ auf das Aufgabenspektrum des Militärs verwischt die EU die Grenze zwischen militärischen und polizeilichen Aufgaben. Die Verfolgung und Bestrafung von Verbrechern (und was anderes sind Terroristen?!) waren im modernen Rechtsstaatsverständnis bislang eine Angelegenheit der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden, also von Polizei und Justiz. Die Streitkräfte sind dagegen in erster Linie dazu da, auf äußere Bedrohungen zu
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reagieren, notfalls auch Kriege zu führen. Diese Zweckbestimmung soll nun auch für die Bekämpfung des Terrorismus gelten, wobei die EU davon ausgeht, dass dieser Kampf häufig in „Drittstaaten“ ausgetragen wird.
(43) Etablierung eines militarisierten Kerneuropa. In Artikel I-41, Absatz 6 heißt es: „Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforde- rungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union.“
Dies bedeutet, dass einzelne Staaten innerhalb der EU, die „untereinander festere Verpflichtungen eingegangen“ sind, gemeinsam auch festere militärische Strukturen schaffen können. Weiter heißt es: „Im Rahmen der nach Artikel III-310 erlassenen Europäischen Beschlüsse kann der Ministerrat die Durchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedstaa- ten übertragen, die über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen und sich an dieser Mission beteiligen wollen.“ (Art. III-311)
Die Mitgliedstaaten, die sich zur „strukturierten Zusammenarbeit“ zusammenge- funden haben, entscheiden auch allein über ihr Vorgehen. (Art. III-312). Dies führt, sollte es Verfassungsrang erhalten, auf jeden Fall zur Festschreibung militärinterventionistischer Strukturen und Politik innerhalb der EU: Auch wenn Regierungen einzelner Staaten dies nicht (mehr) mitmachen wollen, dann werden es eben die Staaten tun, die „untereinander festere Verpflichtungen eingegangen“ sind – und den anderen wird ein Mitspracherecht verweigert.
(44) In Artikel I-43(1) des Verfassungstextes wird festgelegt, dass die Union und ihre Mitgliedstaaten „gemeinsam im Geiste der Solidarität (handeln), wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um …
– terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden;
– die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terror- anschlägen zu schützen;
– im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politi- schen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen“.
Wird diese „Solidaritätsklausel“ aber im Lichte ihrer Vorgeschichte betrachtet, so erscheint sie letztlich als die Überführung der Beistandsverpflichtung aus dem WEU-Vertrag in die EU-Verfassung. Die WEU ist Nachfolgerin des am 17. März 1948 geschlossenen Brüsseler Pakts, der von den westeuropäischen Kriegsgegnern Hitler-Deutschlands 1948 geschlossen wurde und sich gegen eine mögliche Bedrohung durch die im Entstehen begriffene Bundesrepublik Deutschland richtete. Dieser Pakt sieht einen Beistandsautomatismus vor und
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beansprucht aufgrund der damals noch existierenden kolonialen Interessen der westeuropäischen Mächte weltweite Zuständigkeit. In der Folge des Beitritts der BRD und Italiens zur NATO wurde der Brüsseler Pakt 1954 umbenannt in WEU, die ihre militärischen Fähigkeiten der NATO unterstellte. Gleichzeitig traten die BRD und Italien diesem Verteidigungsbündnis bei. Seit 1984 betrieben vor allem Frankreich und Deutschland die Wiederbelebung des Paktes und seine Integration in den EU-Prozess. Doch die direkte Überführung der WEU in die EU erfolgte nicht. In der Folge der Beschlüsse des EU-Gipfels von Köln (Juni 1999) wurden zwar die militärischen Aufgaben (Petersberg-Aufgaben) von der WEU an die EU übertragen, nicht aber die vertraglichen Verpflichtungen. Dies geschah nun (am 25.3.2004 und zwar fast unbemerkt noch vor der Verabschiedung der Verfassung ) über den Umweg der dem Buchstaben des WEU-Vertrags entstammenden Solidaritätsklausel und mit Berufung auf die sog. terroristische Bedrohung. Mit dem Ziel der „Abwendung“ terroristischer Bedrohungen auch unter Einsatz militärischer Mittel reklamiert die EU eine weltweite militärische Zuständigkeit.
Die „Europäische Sicherheits-Strategie“ (ESS)
(45) Tatsächlich unternimmt die EU seit geraumer Zeit zahlreiche Anstrengungen, um zu einer ernst zu nehmenden Militärmacht heranzuwachsen: Die zeitweise Übernahme des Kommandos in Makedonien (April 2003), die selbständige Durchführung (zusammen mit Frankreich) an einer EU-Mission im Kongo im Sommer 2003, die vorgesehene Übernahme des Kommandos in Bosnien- Herzegowina ab Januar 2005 sind Beispiele dafür, dass die EU ihre im Aufbau befindlichen Militärkapazitäten weltweit einzusetzen gedenkt. Die deutsche Bundesregierung, die zu den treibenden Kräften dieser Entwicklung zählt, feiert denn auch alle noch so kleinen Militärbeiträge der EU als Meilensteine auf dem Weg in eine global agierende europäische Armee der Zukunft (Giegerich/Wallace 2004). Mit dem Aufbau europäischer Einsatztruppen in einer Gesamtstärke von 80.000 Soldaten sowie den beschlossenen „Battle-Groups“ (hoch mobile, rund 1.500 Mann starke Kampfeinheiten, die innerhalb von fünf Tagen einsatzbereit sein sollen) schafft sich die EU auch die militärischen Fähigkeiten, auf anderen Kontinenten in bewaffnete Konflikte einzugreifen oder – im noch schlimmeren Fall – solche Konflikte heraufzubeschwören.
(46) Mehrfach wird in den grundlegenden Dokumenten der EU auf die UN verwiesen. Laut Verfassungsentwurf „…leistet (die Union) … einen Beitrag … zur … Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Vereinten Nationen.“ Und will den „Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts … zu stärkerer Geltung verhelfen.“ Und laut ESS ist die Charta der Vereinten Nationen der „grundlegende Rahmen der internationalen Beziehungen.“ Auffällig ist, dass die EU von „Grundsätzen“ und „Rahmen“ spricht, es aber vermeidet, ihre Außen- und Sicherheitspolitik
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explizit den Bestimmungen der Charta zu unterwerfen. Täte sie dies, so könnte sie ja in der ESS nicht den Anspruch erheben, „zu handeln, bevor die Verhältnisse in den Ländern um uns … sich verschlimmern.“ Sowohl die Ausführungen zur GASP im Verfassungsentwurf wie insbesondere die sicherheitspolitischen Schlussfolgerungen der ESS lassen dagegen nur den Schluss zu, dass die EU gegenüber der Charta der UN Lippenbekenntnisse abgibt, eine eindeutige Festlegung auf die Bestimmungen dieses kollektiven Sicherheitssystems, dessen Mitglied sämtliche Staaten der Union sind, jedoch geflissentlich vermeidet. Und, so darf gefolgert werden: Ginge es der EU um die Stärkung der Weltorganisation, so könnte sie endlich die Art. 45 und 47 der Charta mit Leben erfüllen, indem sie nicht eigene Interventionskräfte aufbaut, sondern diese Einheiten dem Sicherheitsrat zur Verfügung stellt und auf die Bildung des in Art. 47 vorgesehenen Generalstabsausschusses beim Sicherheitsrat hinarbeitet. Statt einer Stärkung des UN-Systems wird hier das ius ad bellum eingefordert, das zur Erosion des in der Charta angelegten suprastaatlichen Gewaltmonopols führen wird.
(47) Die ESS folgt im Kern ihrem „Vorbild“, der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA (NSS), in der eine präventive Kriegführungsdoktrin festgeschrieben wird, auch wenn sie dieses Ziel durch den Begriff „pre-emptive measures“ zu kaschieren versucht. Hier stellt sich die Frage, ob sich eine solche Strategie wie die NSS mit dem Art. 51 UN-Charta völkerrechtlich rechtfertigen lässt. Entsprechend den Tatbestandsvoraussetzungen verlangt die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts die Gegenwärtigkeit eines bewaffneten Angriffs. Erforderlich ist eine gewisse Angriffsintensität, d.h. grenzverletzende Truppenbewegungen, Blockaden von Häfen und Küsten oder militärische Luftschläge. Liegen solche Angriffe vor, so kann der Angegriffene selbst militärische Gewalt anwenden, um den Angreifer daran zu hindern, seinen Angriff fortzusetzen. Folglich steht einer Militäraktion, die einem gegnerischen Angriff zuvorkommen soll, der Wortlaut des Art. 51 UN-Charta entgegen. Dass auch die USA sich bisher formal einer solchen Auslegung der UN-Charta unterordnen, wird daran deutlich, dass offiziell sowohl der Angriff auf Af- ghanistan als auch der auf Irak nicht mit der NSS begründet wurden.
(48) In ihrer Zielsetzung grenzt sich die ESS nicht von der NSS ab. Statt dessen sind Ähnlichkeiten im Denkansatz nicht zu übersehen. Präventiv- und präemtive Schläge werden nicht prinzipiell ausgeschlossen, allerdings wird der ESS-Ansatz durch Nennung anderer Herausforderungen an die europäische Sicherheit wie Ar- mut, Hunger, Krankheiten, Ressourcenverknappung und Migration genannt. Doch die sicherheitspolitischen Konsequenzen dieser mit der Globalisierung einhergehenden Prozesse werden nicht thematisiert. Entwicklung als Voraussetzung für Sicherheit wird zwar in der Lageanalyse der ESS genannt, in den Zielformulierungen jedoch nicht mehr berücksichtigt, weil das Dokument auf einen ausschließlich militärischen Sicherheitsbegriff ausgerichtet ist.
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(49) Die EU, die mit Hilfe der GASP und vor allem der ESVP, die in der ESS ihre Operationalisierung erfährt, hat bisher völlig darauf verzichtet, ihren außenpoliti- schen Einfluss in den Vereinten Nationen geltend zu machen: Immerhin sind zwei Staaten der Union Ständige Mitglieder des Sicherheitsrats, und der Block von 25 Stimmen in der Generalversammlung ist ein erheblicher Faktor in diesem Organ der VN. Nirgendwo ist die EU in den UN bisher als Akteur aufgetreten – im Ge- genteil: Ihre Einzelstaaten verfolgen dort weiterhin konsequent nationale Politik, und in der Vorphase der Irak-Krieges erwies sich die EU als in ihren außenpoliti- schen Grundsätzen gespalten. Die Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland um einen Ständigen oder „halb-ständigen“ Sitz im Rahmen einer Reform der UN zielen gleichfalls nicht auf die Stärkung oder Vereinheitlichung einer gemeinsamen europäischen Politik, sondern werden mit dem politischen Gewicht Deutschlands, also mit nationalem Geltungsdrang begründet. Dies ist weder dem Funktionieren des Sicherheitsrats im Sinne präventiven Krisenmanagements förderlich noch wird damit dem vehement vorgetragenen Argument einer ausgewogeneren regionalen Vertretung der Staaten im Sicherheitsrat entsprochen.
(50) Die ESS unterscheidet sich von der NSS im Übrigen durch die Einbeziehung ziviler Komponenten in ihre militärischen Interventionsstrategien (CIMIC: Civil- Military-Cooperation) (NATO 2003). Hierbei wird die Arbeit von NROs den militärischen Zielsetzungen unterstellt, da „das militärische Handeln mit dem zivilen Umfeld in Einklang“ gebracht werden soll, um den „eingesetzten Streitkräften die Durchführung ihres Auftrags zu erleichtern.“ Instrumente der Entwicklungspolitik und der humanitären Hilfe werden so direkt oder indirekt für militärische Zielsetzungen genutzt. Dies untergräbt die Glaubwürdigkeit ziviler Hilfe und macht die zivilen Projektmitarbeiter/innen zur Kriegspartei und damit zum Angriffsziel der gegnerischen Parteien. CIMIC entkleidet die humanitäre Hilfe ihres neutralen und unabhängigen Charakters und zerstört so ein wichtiges Instrument der zivilen Konfliktlösung und konstruktiven Politik in Krisengebieten.
Allgemeine Grundsätze einer zivilen EU-Politik
(51) „Mit dem jetzt eingeschlagenen Weg einer Vorrangstellung von Sicherheits-, Verteidigungs- und Rüstungspolitik entfernt sich die Europäische Union mehr und mehr vom Modell einer Zivilmacht. Wir empfehlen den Verantwortlichen, statt sich bei den Details der ESVP im Gestrüpp von Industriekonkurrenz und nationalen Eigeninteressen zu verheddern, mehr auf die Fortentwicklung der GASP und die Imperative der Entwicklungspolitik zu achten. Die EU-Außenpoli- tik sollte sich auf ihre Stärken konzentrieren: wirtschaftliche Integration, Diplo- matie, zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung.“ (Friedensgutachten 2004)
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Diese Forderung der großen deutschen Friedensforschungsinstitute muss für die EU-Außenpolitik bestimmend werden. Der Weg in die weitere Militarisierung der EU ist eine verhängnisvolle Sackgasse, an deren Ende nicht weniger, sondern mehr Gewalt, Rüstung und Krieg stehen werden. Er ist für die Lösung von Konflikten und die Verhinderung von Gewalt kontraproduktiv. Er verschlingt Ressourcen, welche die EU dringend zur zivil-präventiven Konfliktbearbeitung benötigt. Die schon jetzt vorhandene Tendenz, Mittel aus dem Europäischen Entwicklungsfond (EEF) für militärische Aktivitäten zur Friedenssicherung zu verwenden, schwächt den Ansatz der Armutsbekämpfung ebenso wie die Umsetzung einer nachhaltig und langfristig orientierten Entwicklungspolitik, die der Herausbildung von Krisen vorbeugt. Die Bundesregierung soll das ursprüngliche Ziel der Vereinten Nationen, dass jeder Industriestaat 0,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukt für Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen solle, binnen 10 Jahren realisieren.
(52) Auf der Grundlage der von den Generalsekretären der UN entwickelten Agenden für Frieden und Entwicklung könnte gerade die EU andere – zivilmächtige – Strategien entwickeln, die eine friedensorientierte Außenpolitik Realität werden lassen könnten. Diese wäre zugleich eine nachhaltigere Sicherheitspolitik, als sie über das Militär als Bedrohungsinstrument erreichbar ist. Nur eine im Umfang zu steigernde und qualitativ zu verbessernde, als Prävention im Sinne des Abbaus struktureller Gewaltverhältnisse verstandene Entwicklungspolitik kann Grundlage einer wirklich friedensorientierten Außenpolitik sein.
(53) Eine auf die Durchsetzung der (auch materiellen) Menschenrechte und der Demokratie orientierte Politik, wie sie bereits in der europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte festgeschrieben ist (European Commission 2002), wäre – ganz im Sinne der in der ESS beschworenen Probleme der Weltgesellschaft – ein effektiveres Mittel im Kampf gegen den immer wieder beschworenen Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln als die willkürliche und völkerrechtswidrige Anwendung von Gewalt dort, wo kurzfristige Interessen dies zu gebieten scheinen. Die Umsetzung einer solchen Strategie in konkrete Politik und ihre sichtbaren Erfolge würden den immer wieder beschworenen Prinzipien der EU-Außenpolitik Glaubwürdigkeit verleihen und könnten schließlich einen zivilisierenden Einfluss auch auf die US- Außenpolitik haben. Ein Abbau struktureller Gewalt ist aber nur dann möglich, wenn Entwicklungspolitik sich konsequent und kohärent daran orientiert, die Menschen, ihre sozialen und politischen Entfaltungsinteressen und Entfaltungschancen in den Mittelpunkt von Entwicklung zu rücken – ganz im Sinne des Konzeptes menschlicher Entwicklung als ‚Entwicklung des Menschen, Entwicklung für den Menschen und Entwicklung durch den Menschen’, wie es von Amartya Sen entwickelt, vom UNDP popularisiert, und u.a. vom AHDR aufgegriffen wurde. Die eher bescheidenen Erfolge europäischer Entwick-
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lungspolitik etwa im Rahmen des EMP sind auch darauf zurückzuführen, dass europäische Konfliktlösungsansätze (z. Bsp. Palästina) Verbalrethorik geblieben sind und Demokratisierungserfordernisse Stabilitätsinteressen untergeordnet blie- ben, ohne Stabilität und Sicherheit hergestellt zu haben.
Friedenspolitische Empfehlungen
(54) Die Verfassungskampagne der Bundesregierung lügt und verschweigt. Es ist eine Lüge, wenn behauptet wird, eine Ablehnung der Verfassung durch das Plebiszit in einem beliebigen EU-Land oder durch das Verfehlen einer qualifizierten Mehrheit in einem Ratifizierungsorgan (in der Regel das Parlament) würde die Einheit der EU gefährden. In Wahrheit behalten im Falle des Scheiterns dieser Verfassung alle bisher geschlossenen EU-Verträge ihre Gültigkeit; der überwiegende Teil dessen, was in der Verfassung, die ja ein „Verfassungsvertrag“ ist, kodifiziert werden soll, ist also bereits geltendes EU-Recht und bleibt das auch. Weitere Integrationsschritte sind auf dem normalen Weg der Vereinbarung durch den Europäischen Rat jederzeit möglich. Der Verfassungsentwurf müsste dann überarbeitet und neu diskutiert werden. Systematisch verschwiegen wird zudem, dass die EU-Verfassung einen umfangreichen Teil enthält, der die Militarisierung der EU regelt. Weder auf der Homepage der Bundesregierung noch in ihren Hochglanzprospekten zur EU-Verfassung noch in den Verlautbarungen der Regierungsparteien wird über den Inhalt der Art. I-41 oder III-309 ff informiert. Ein öffentlicher Diskurs über die darin vorgenommenen Weichenstellungen ist auf dieser Basis nicht möglich. Von der Bundesregierung verlangen wir daher eine sachgemäßere und offene Informationspolitik; von der Friedensbewegung und anderen sozialen Bewegungen und gesellschaftliche Gruppen erwarten wir verstärkte Bemühungen, ihrerseits über die „Knackpunkte“ der EU-Verfassung aufzuklären.
(55) Wir sind entschieden dafür, dass der Verfassungsentwurf in dieser Form nicht ratifiziert wird. Sollte es, was im Moment allerdings nicht sehr wahrscheinlich ist, in Deutschland zu einem Referendum über die Verfassung kommen, werden wir dazu aufrufen, mit Nein zu stimmen. Falls die Ratifizierung vom Bundestag und Bundesrat vorgenommen wird, appellieren wir an die Parlamentarier und Ländervertretungen, dem Verfassungsentwurf die Zustimmung zu versagen. Bei den Neuverhandlungen um eine EU-Verfassung sollte darauf geachtet werden, dass sie keine Aufrüstungsverpflichtung, keine Rüstungsagentur, kein militärisches „Kerneuropa“ und keine Militärinterventionen in aller Welt enthält. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU sollte strikt an Geist und Buchstaben der UN-Charta und an das Völkerrecht gebunden werden.
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(56) Der „Kampf gegen den Terror“, wie er von Seiten der USA und der meisten westeuropäischen Staaten seit dem 11.9. geführt wird, muss entmilitarisiert wer- den. Terroristen und deren Aktivitäten sind nicht mit Krieg zu bekämpfen, sondern mit Mitteln ziviler Ermittlungsbehören, der Justiz und der Polizei. Hierzu gehört auch die Revision der Schengen-Vereinbarungen im Sinne ihrer Anpassung an die Bestimmungen der Genfer Konventionen. Ferner sind aus den Ausländer- und Antiterrorgesetzen sämtliche Bestimmungen zu entfernen, die Angehörige anderer Kulturen und Religionen pauschal unter Terrorismus- Verdacht stellen.
(57) Die Europäische Union soll alle ihre Möglichkeiten nutzen, um die OSZE zu einem wirklichen System kollektiver Sicherheit im Sinne der UN-Charta auszu- bauen. Eine solche Regionalorganisation der Vereinten Nationen, der alle europäischen Staaten gleichberechtigt angehören, würde einen Militärpakt wie die NATO ebenso wie die Militarisierung der EU vollends überflüssig machen.
(58) Die Bundesregierung und die EU sollten darauf drängen, dass die Vereinten Nationen zu dem bewährten Blauhelm-Konzept zurückkehren. UN- Friedenstruppen können demnach nur mit Einwilligung der jeweiligen Konfliktparteien entsandt werden und sind nur mit einem defensiven Auftrag auszustatten (leichte Bewaffnung zur Selbstverteidigung). Kampfeinsätze der EU (Operation Artemis), wie sie Anfang März 2005 in der kongolesischen Provinz Ituri durchgeführt wurden, müssen strikt verboten bleiben. Solche Friedenstruppen sollten nicht von Großmächten gestellt, sondern aus neutralen Kleinstaaten rekrutiert werden, Sollte – was nur als schlechtere Alternative gelten kann, die EU Truppen für solche Einsätze bereit stellen, so wären sie dem ausschließlichen Kommando eines beim Sicherheitsrat zu bildenden Generalstabs zu unterstellen (Art. 47 UN-Charta). In diesem Zusammenhang ist völlig unerklärlich, warum der Bericht des UN-Generalsekretärs zur Reform der Vereinten Nationen („In größerer Freiheit“) die Streichung dieses Artikels 47 aus der UN-Charta empfiehlt (Bericht, Ziff. 219)
(59) Seit Monaten bereisen Bundeskanzler und Außenminister die Welt, um für ihren „Anspruch“ auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu werben und Bündnispartner zu gewinnen. Dies ist ein völlig falsches Signal und widerspricht dem Anliegen einer auf Ausgleich gerichtete Friedenspolitik. Noch in der Koaliti- onsvereinbarung der ersten rot-grünen Koalition von 1998 war die Forderung auf- gestellt worden, der EU einen Sitz im Sicherheitsrat zu geben. Das wäre dann ge- rechtfertigt, wenn Großbritannien und Frankreich auf ihren Sitz verzichten. Deutschland im UN-Sicherheitsrat würde die politischen Gewichte zugunsten der Ersten Welt und zulasten der Dritten Welt noch weiter verschieben. Deutschland im privilegierten Kreis der ständigen Sicherheitsratsmitglieder würde bedeuten, dass zu den fünf größten Waffenexporteuren sich noch einer der ganz großen hin- zugesellt. Stattdessen plädieren wir für eine ausgewogenere Zusammensetzung
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des Sicherheitsrats durch die Hinzunahme von Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, damit die Dritte Welt angemessener vertreten ist.
(60) Die UN-Reform-Diskussion der Bundesregierung darf sich nicht ausschließ- lich auf die Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrats konzentrieren. Als höchstes Organ der Vereinten Nationen, das für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zuständig ist, spielt der Sicherheitsrat zwar eine zentrale, aber längst nicht die einzige Rolle im UN-System. Zu stärken wäre vor allem jenes fast in Vergessenheit geratene Organ der UN, der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC), in dem rund ein Viertel der Mitglieder der UN vertreten sind und von dem aus verstärkt eine an den oben formulierten Zielen orientierte Entwicklungspolitik betrieben werden könnte. Von herausragender Bedeutung ist im Sinne der Etablierung des Prinzips der Gewaltenteilung innerhalb des UN- Systems die Einrichtung einer unabhängigen und mit der Normenkontrolle beauftragten Gerichtsbarkeit, die auch über die Völkerrechtskonformität von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrats befindet (der IGH leistet dies nicht und der Internationale Strafgerichtshof ist für andere Aufgaben zuständig). Im Sinne von mehr Gewaltenteilung ist im Rahmen einer UN-Reform auch die Erweiterung der legislativen Befugnisse der Generalversammlung und ihrer Kontrollkompetenz gegenüber dem Sicherheitsrat anzustreben.
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Kasseler Schriften zur Friedenspolitik (ab 2000)
Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.): Nach dem Jahrhundert der Kriege. Alternativen der Friedensbewegung, Kassel 2000, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik, Bd. 5 (ISBN: 3-934377-61-0), 10 EUR
Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.): Dem Krieg widerstehen. Bei- träge zur Zivilisierung der Politik, Kassel 2001, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik, Bd. 6 (ISBN: 3-934377-80-7), 10 EUR
Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.): Frieden im Schatten von Ter- ror und Krieg, Kassel 2002, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik, Bd. 7 (ISBN: 3-934377-82-3), 10 EUR
M. Berndt und I. El Masry (Hg.), Konflikt, Entwicklung, Frieden. Emanzi- patorische Perspektiven in einer zerrissenen Welt. Eine Festschrift für Werner Ruf, Kassel 2003, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik, Bd. 8 (ISBN: 3-934377-83-1), 15 EUR
Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.): Wege aus Krieg und Gewalt, Kassel 2003, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik, Bd. 9 (ISBN: 3- 934377-85-8), 15 EUR
Lothar Liebsch: Frieden ist der Ernstfall. Die Soldaten des „DARM- STÄDTER SIGNALS“ im Widerspruch zwischen Bundeswehr und Frie- densbewegung, Kassel 2003, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik, Bd. 10 (ISBN 3-934377-84-X), 15 EUR
Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.): Mitten im Krieg. Perspektiven einer friedlichen Welt, Kassel 2004, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik, Bd. 11 (ISBN: 3-934377-74-2), 15 EUR
Bestellungen sind zu richten an.:
Winfried-Jenior-Verlag, Lassallestr.15, 34119 Kassel, e-mail: Je- nior@aol.com Oder: AG Friedensforschung an der Uni Kassel, FB 5, Nora-Platiel-Str. 5, 34109 Kassel; e-mail: strutype@uni-kassel.de
Bitte vormerken:
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P. Strutynski, Universität Kassel, FB 10, Nora-Platiel-Str. 5, 34109 Kassel, Tel. 0561/804-2314, FAX: 0561/804-3738; E-mail: strutype@uni-kassel.de
Schutzgebühr: EUR 2,-
12. Friedenspolitischer
Ratschlag
am 3./4. Dezember 2005
in Kassel – Universität

 

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