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Kashmir-Konflikt

Erstellt am 05.10.2002 von Andreas Hermann Landl
Dieser Artikel wurde 3232 mal gelesen und am 19.10.2008 zuletzt geändert.

Der Kaschmir-Konflikt

Mehr als nur ein Konflikt zwischen Indien und Pakistan


Von Joachim Heidrich
Der Streit um Kaschmir ist ein zentraler Streitpunkt in den Beziehungen zwischen Indien und Pakistan seit ihrer Gründung. Er war Gegenstand mehrerer kriegerischer Auseinandersetzungen, und vorläufig gibt es wenig Aussicht auf eine baldige demokratische Lösung angesichts der von den Regierenden beider Staaten verfolgten Politik.(1)

Pakistan: Überblickskarte von Pakistan

Westliche“ Medien präsentieren die Vorgänge gleichsam als einen „Kulturkampf“, hervorgerufen durch die politische Teilung des Subkontinents nach religiösen Kriterien am Ende der Kolonialherrschaft 1947, und fortgesetzt als Feindschaft zwischen dem muslimischen Pakistan und einem Hindu-dominierten Indien. Doch nicht die unterschiedliche religiöse Orientierung verursachte den permanenten Zwist, sondern die Tendenz, den in der Kolonialperiode zum Politikum gewordenen Hindu-Muslim-Konflikt auf die Ebene der Staatspolitik zu projizieren. Nachdem beide Staaten seit 1998 über einsatzfähige Kernwaffen verfügen, erhielt der bilaterale Konflikt eine neue Dimension. Die Vorgänge in und um Afghanistan 2001/02 veränderten frühere Konstellationen und den Stellenwert Kaschmirs.

In der von den USA gezimmerten „Koalition gegen den internationalen Terrorismus“ finden sich Indien und Pakistan Seite an Seite – trotz unvereinbarer Positionen zur Terrorismusproblematik in der engeren Region. Das hat indes die Rivalen nicht dazu bewegt, von ihrer Konfrontationshaltung abzurücken. Die Interessen der etwa 10 Mio. Bewohner Kaschmirs spielen bei all dem nur eine untergeordnete Rolle.

Das koloniale Erbe

Kaschmir, entstanden 1846 als quasi-selbständiger Staat (2), war eines der großen unter den indischen Fürstentümern, die von der Kolonialmacht mit weitgehender innerer Souveränität ausgestattet wurden. Seit 1925 herrschte Maharadscha Hari Singh aus der hinduistischen Dogra-Dynastie über eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung, die vor allem im Kaschmir-Tal dominierte, und eine starke Hindu-Minderheit, konzentriert im südlichen Landesteil Jammu, sowie eine buddhistische, ethnisch-kulturell dem benachbarten Tibet verwandte Minderheit in Ladakh.

Ein 1927 erlassenes Gesetz untersagte anderen als den Untertanen des Staates die Ausübung von Ämtern im öffentlichen Dienst sowie den Erwerb von Boden. Die öffentlichen Ämter wurden jedoch vorwiegend von Dogra-Rajputen aus Jammu besetzt, ein Privileg, das dann auch den sogenannten Kaschmiri-Pandits, d.h. im Kaschmir-Tal ansässigen Hindus, gewährt wurde. Das schuf ein Ungleichgewicht zwischen Hindus und Muslimen und stand im Widerspruch zur Zusammensetzung der Bevölkerung.

Anfang der 1930er entwickelte sich eine Protestbewegung gegen die autoritäre Herrschaft des Maharadscha, die von der Staatsmacht niedergeschlagen wurde. 1932 gründete Sheikh Abdullah die All Jammu and Kashmir Muslim Conference mit dem Ziel, Kaschmir von der autoritären Herrschaft des Maharadscha zu befreien. Die Organisation verstand sich nicht als muslimisch-religiöse, sondern als säkulare politische Organisation und bezeichnete sich seit 1939 als National Conference. Sie stand der indischen nationalistischen Bewegung gegen den Kolonialismus sowie dem Indischen Nationalkongress nahe. In ihren Reihen gab es Bemühungen, unter der heterogenen Bevölkerung des Staates die Idee einer Kaschmiri-Identität zu propagieren. Die Organisation nahm 1944 ein Grundsatzprogramm für ein „Neues Kaschmir“ an, das eine Verfassung säkularen Charakters, die Gleichstellung der Frau, Demokratisierung der Verwaltung und radikale Umgestaltungen der Agrarstruktur durch die Beseitigung parasitärer Elemente und eine Bodenreform zugunsten der tatsächlichen Bearbeiter des Landes vorsah.

1946 initiierte die National Conference eine anti-britische Bewegung und verlangte den Widerruf des Vertrages von 1846 sowie die Wiederherstellung der Souveränität des Volkes von Kaschmir. Die Behörden verhängten das Kriegsrecht und verhafteten Abdullah.

Inzwischen hatte sich in Indien 1940 die Muslim-Liga für die Zeit nach der Kolonialherrschaft im Sinne der Zwei-Nationen-Theorie zugunsten der Konstituierung separater souveräner Staaten in Provinzen mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung ausgesprochen, während der Indische Nationalkongress für ein einheitliches, föderales Indien eintrat. In Opposition zur National Conference in Kaschmir wurde dort 1941 die Muslim Conference wieder belebt; sie identifizierte sich mit der Position der Muslim-Liga und sprach sich für den Anschluss Kaschmirs an ein künftiges Pakistan aus.

Im Frühjahr 1947 revoltierte die bäuerliche muslimische Bevölkerung im Gebiet Poonch gegen unerträgliche neue Abgabenforderungen des Maharadscha. Die Revolte ließ sich nicht völlig unterdrücken. Sie war jedoch Vorwand für das Eindringen sog. Stammeskrieger, d. h. ethnischer Paschtunen, aus der Nordwest-Grenzprovinz nach Kaschmir, um als „Freiwillige“ ihren Glaubensbrüdern in Poonch und Jammu zu Hilfe zu eilen und sie gegen die von den Behörden tolerierten Pogrome seitens Hindus und Sikhs zu schützen. Pakistan entsandte Truppen zum „Schutz der unterdrückten Muslime“. Streitkräfte des Maharadscha gingen im August 1948 gegen die Rebellen in Poonch vor, die für den Anschluss Kaschmirs an Pakistan demonstrierten und im Oktober eine unabhängige Regierung eines „Freien (Azad) Kaschmir“ ausriefen. Als Folge dieser Auseinandersetzungen flohen große Teile der muslimischen Bevölkerung aus Jammu.

Postkoloniale Phase

Im August 1947 entstanden die Staaten Indien und Pakistan, zunächst mit dem Status von Dominien im Britischen Empire. Pakistan bestand aus dem größeren Westpakistan und dem durch 1400 km indischen Territoriums davon getrennten Ostpakistan. Den Herrschern der sog. Fürstenstaaten blieb theoretisch frei gestellt, sich für den Anschluss an einen der beiden neuen Staaten zu entscheiden. Der Maharadscha von Kaschmir verzögerte die Entscheidung in der Hoffnung, seine Selbständigkeit bewahren zu können. Angesichts der fortdauernden Rebellion gegen seine Herrschaft, der massiven Infiltration von Paschtunen aus der nun zum Staatsgebiet Pakistans gehörenden Nordwest-Grenzprovinz und der Wirkungslosigkeit seiner Unterdrückungsmaßnahmen sah sich der Maharadscha im Oktober 1948 gezwungen, Indien um Hilfe zu ersuchen und den Beitritt Kaschmirs zur Indischen Union zu erklären. Indien antwortete sofort mit der Entsendung von Truppen, die sowohl die Revolte unter Kontrolle als auch die bewaffneten Eindringlinge zum Stehen brachten. Aus indischer Sicht war die Beitrittserklärung des Maharadscha zur Indischen Union rechtsgültig und der Einsatz des Militärs gegen Eindringlinge ein Akt der Verteidigung seiner territorialen Integrität. Pakistan dagegen bezeichnete den Beitritt als illegal, bestritt generell Indiens Anspruch auf Kaschmir und erklärte die anti-indischen Aktionen als Widerstand der Kaschmiris gegen die Unterdrückung durch Indien, den es lediglich unterstützte.

Streitobjekt zwischen Indien und Pakistan

Durch Vermittlung der Vereinten Nationen kam es 1949 zu einem Waffenstillstandsabkommen, das Pakistan die Kontrolle über knapp ein Drittel Kaschmirs, Indien die Kontrolle über zwei Drittel, d.h. den größten Teil des Kaschmir-Tals, über Jammu und Ladakh überließ. Beide Seiten – Indien und Pakistan – stimmten einem Plebiszit über die endgültige Zugehörigkeit Kaschmirs zu, erreichten jedoch kein Einverständnis über das Verfahren, vor allem über die Demilitarisierung als wesentliche Voraussetzung für eine Volksabstimmung.(3) Die 1949 von der Verfassungsgebenden Versammlung Indiens angenommene (im Januar 1950 in Kraft gesetzte) Verfassung der Republik Indien gewährte im Artikel 370 Kaschmir einen Sonderstatus. Kaschmir genießt danach als Staat der Indischen Union gewisse Autonomierechte (z.B. werden vom indischen Zentralparlament beschlossene Gesetze nicht automatisch auf Kaschmir übertragen). Im indischen Sprachgebrauch gilt der von Pakistan verwaltete Teil seitdem als „von Pakistan besetztes Territorium“.

1951 fanden in Indien die ersten freien Wahlen seit der Unabhängigkeit statt. In Kaschmir siegte die National Conference, Sheikh Abdullah wurde Ministerpräsident. Er favorisierte zunächst die Union mit Indien, wollte sie aber auf eine Entscheidung des Volkes und nicht auf die des Maharadscha gründen. Er spielte auch mit dem Gedanken der Unabhängigkeit für Kaschmir. Die Regierung in New Delhi nahm das zum Anlass, Abdullah 1953 aus seinem Amt zu entlassen und ihn zu verhaften. Das geschah vor dem Hintergrund der Bemühungen der USA um den Aufbau eines Paktsystems zur „Eindämmung“ der Sowjetunion und des Kommunismus, ein Bemühen, das 1954 mit der Gründung des Bagdad-(später: Zentral-) Pakts Gestalt annahm. In dem Pakt war Pakistan – das auch Gründungsmitglied der SEATO wurde – eine wichtige Rolle zugedacht. Der strategische Stellenwert Kaschmirs stieg in dem Zusammenhang. Wiederholt wurde von westlicher Seite der Gedanke eines unabhängigen Kaschmir erwogen. Die Idee einer Politik der Nichtpaktgebundenheit, die von Indien nachdrücklich vertreten wurde, galt den Initiatoren der Eindämmungspolitik als suspekt.

1954 ratifizierte die Verfassungsgebende Versammlung Kaschmirs den Beitritt zu Indien. 1957 beschloss das Gremium die Verfassung Kaschmirs – von Abdullah und seinen Parteigängern als Bruch der Vereinbarung über eine Volksabstimmung und endgültige Absage an ein Plebiszit über die Zukunft Gesamt-Kaschmirs betrachtet. (Kaschmir hat als einziger Staat der Indischen Union eine eigene Verfassung.) Tatsächlich hielt Indien die Plebiszitfrage seit 1952 – dem Abschluss eines Beistandsabkommens Pakistans mit den USA – für irrelevant. Indien setzte auf die Integration Kaschmirs in seinen Staatsverband und bemühte sich um Übertragung des im Lande geltenden politischen Systems. Dazu gehörten die Wahlen zum Staaten- wie zum Zentralparlament, die von der inneren Opposition in Kaschmir gewöhnlich boykottiert oder deren Ergebnisse angefochten wurden. Pakistan dagegen war bestrebt die Kaschmirfrage offen zu halten, solange kein Plebiszit stattfand; es gewährte „Azad Kaschmir“ einen Sonderstatus im Rahmen der Islamischen Republik Pakistan.

Gespräche zwischen Indien und Pakistan über Kaschmir 1959-60 blieben erfolglos. Gegenstand waren u.a. Vorstellungen über eine mögliche Teilung des Staats sowie die Internationalisierung der Frage – ein Aspekt, den Pakistan fortan ebenso hartnäckig verfocht wie Indien ihn als indiskutabel zurückwies. Eine 1965 von Pakistan provozierte (und militärisch verlorene) Auseinandersetzung mit Indien brachte für keine Seite Vorteile. Im von der Sowjetregierung vermittelten Abkommen von Taschkent verpflichteten sich beide Kontrahenten, zur Position vor 1965 zurückzukehren. Seitdem operierten allerdings in Kaschmir in zunehmendem Maße von Pakistan unterstützte Guerillagruppen mit anti-indischer Zielsetzung. Der erfolgreiche Befreiungskampf der muslimischen Bevölkerung Ostpakistans von 1971 gegen die Vorherrschaft der westpakistanischen Eliten sowie für die Erhaltung der Bengali-Sprache und -Kultur, der vom pakistanischen Militär bekämpft wurde und in den Indien militärisch massiv eingriff, endete mit dem Errichten der Volksrepublik Bangladesch und der Niederlage Pakistans, dessen Staatsgebiet seit Dezember 1972 auf Westpakistan beschränkt ist. Im Juli 1972 unterzeichneten die Ministerpräsidenten Indiens und Pakistans, Indira Gandhi und Zulfikar Ali Bhutto, das Abkommen von Shimla. Darin verpflichteten sich die Seiten, offene bilaterale Fragen mit politischen Mitteln zu regeln. Es enthält eine Klausel, wonach die endgültige Regelung der Kaschmir-Frage durch bilaterale Verhandlungen erfolgen soll und beide Seiten die nunmehr „Kontrolllinie“ genannte Waffenstillstandslinie als vorläufige Staatsgrenze respektieren.

Kaschmir im regionalen Spannungsfeld

Obwohl Indien wie Pakistan gleichermaßen Erben des britisch kolonialisierten Subkontinent sind und eine gemeinsame Vergangenheit teilen, gründeten sich die neuen Staaten auf unterschiedlichen Prinzipien. Die dominierende Tendenz war auf indischer Seite ein „säkularer“ Nationalismus, auf pakistanischer ein Muslim-Nationalismus. Allerdings gab es bereits innerhalb der antikolonialen Nationalbewegung auch andere, nämlich „kommunalistische“ ideologische und politische Strömungen. Sie machten der „säkularen“ im selbständigen Indien ernsthaft Konkurrenz und gewannen gegen Ende des Jahrhunderts in Gestalt eines kulturell geprägten „Hindunationalismus“ an Einfluss in Politik und Alltagsleben. Analoge Tendenzen sorgten für die Belebung fundamentalistischer Bestrebungen im pakistanischen Islam und für die „Islamisierung“ der pakistanischen Gesellschaft. Die Möglichkeit, konfessionelle Bindungen zur politischen Mobilisierung zu missbrauchen, erhöhte das Gewicht des Kommunalismus in den ethnisch und religiös pluralen Gesellschaften Südasiens.

Der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan im Dezember 1979 folgte die enge Zusammenarbeit zwischen den USA und Pakistan bei der Rekrutierung und Ausbildung von „Mudschahedin“, islamischer „Freiheitskämpfer“, für Afghanistan. Pakistan wurde zu ihrer Operationsbasis. Der in der Region seinerzeit aufkommende „Dschihadi Islam“ (Dschihad: heiliger Krieg zur Verteidigung des Islam) war primär ein Produkt der Konvergenz von USA- und pakistanischen Interessen.

Als in Kaschmir 1987 die National Conference die Wahlen gewann, klagte die oppositionelle Vereinte Muslim-Front über angebliche Wahlfälschung. Gleichzeitig verstärkten sich sprunghaft Protestbewegungen, deren Ausgangspunkt Kritik an demokratischen Defiziten oder an der hohen Arbeitslosigkeit war. Sie wuchsen 1988 in anti-indische Demonstrationen im Kaschmir-Tal hinüber. Die Staatsmacht antwortete mit Polizeieinsätzen, die zahlreiche Opfer forderten, und mit Einschränkungen der bürgerlichen Rechte.

Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan 1989 setzte militante Energien frei, die sich nun vorrangig auf Kaschmir richteten. In pakistanischen Lagern erhielten einheimische wie ausländische Milizionäre Ausbildung und Waffen für ihren Einsatz in Kaschmir, wodurch sich dort die Spannungen verschärften und die Lage für die Bevölkerung verschlechterte. Die Kluft zwischen Muslimen und Hindus vertiefte sich. Vor dem Hintergrund regruppierten und aktivierten sich politische Kräfte und Organisationen, die unterschiedliche Ziele verfolgen: Unabhängigkeit für Kaschmir, Zusammengehen mit Indien, oder den Anschluss an Pakistan – letztere direkt gestützt von Pakistan. Deren bewaffnete Aktionen nennt Indien deshalb einen grenzüberschreitenden Terrorismus.
Proteste der Bevölkerung im Kaschmir-Tal, dem hauptsächlichen Siedlungsgebiet der Muslime, beantworteten die indischen Sicherheitskräfte mit harten Gegenaktionen. Dadurch entfremdeten sich Teile der Bevölkerung von der Staatsmacht sowie von solchen politischen Kräften, die für die Zusammenarbeit und Dialog mit dem offiziellen Indien eintreten. Andererseits kam es zu kommunalistischen Ausschreitungen in einem Gebiet, das in der Vergangenheit davon weitgehend verschont geblieben war. 1990 flohen etwa 35.000 Familien (schätzungsweise 140.000 Menschen) sogenannter Kaschmiri Pandits, d.h. Hindus, aus dem Kaschmir-Tal nach Jammu. Von den Aktionen der indischen Sicherheitskräfte gegen militante islamistische Gruppen ist häufig die Zivilbevölkerung betroffen und erleidet erhebliche Opfer. Diese werden in der offiziellen Berichterstattung heruntergespielt mit der Erklärung, es handele sich um Opfer der Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Gruppen.

Moderaten Kreisen unter den Muslimen, die für Verständigung und Dialog eintreten, erwuchsen Gefahren von anderer Seite. Davon zeugt der Mord an dem liberalen Politiker Abdul Gani Lone, einer einflussreichen Persönlichkeit aus der Hurriyat-Konferenz, einer Vereinigung verschiedener muslimischer Organisationen, im Mai 2002. Ein Beobachter der Szene sieht den Grund für Lones Ermordung nicht nur in dessen moderater Haltung, die u. a. Bereitschaft zur Zustimmung für die von Indien im Oktober vorgesehenen Wahlen in Kaschmir erkennen ließ. Vielmehr sei die Tat auch als Warnung an jene gedacht, die sich dem USA-Einfluss öffneten und damit der Anti-Taleban- und Anti-al-Qaida-Front näherten.(4) Denn – so derselbe Analytiker – nach einer ersten Phase (1989-1993), als sich der von Pakistan geförderte Terrorismus gegen Indien hauptsächlich auf Kaschmir-basierte Organisationen verließ, und einer zweiten, in der aus Pakistan operierende radikale Gruppen, die meist mit Osama bin Ladens primär gegen Israel und die USA gerichteter internationaler Islamischer Front zusammen arbeiteten, konzentrierte sich dieser nach dem Sturz des Taleban-Regimes in Afghanistan nun auf Kaschmir mit einer anti-indischen Stoßrichtung.
Die Mudschahedin oder Träger des „Dschihadi-Islam“ verfolgen eine eigene Agenda zur Errichtung einer islamischen Herrschaft in Kaschmir. Ihre Absicht, Kaschmir zu islamisieren, d.h. eine orthodoxe Variante des Islam mit seinen Sozialnormen (der Scharia) einzuführen, ist den islamischen Traditionen der Region fremd. Denn hier sind „liberale“ Formen des Sufismus verwurzelt, die u.a. keine Zurücksetzung der Frauen in der Öffentlichkeit kennen. Die Diskrepanz trat zu Tage, als islamistische Gruppen in ihren Operationsgebieten von den Frauen der örtlichen muslimischen Bevölkerung unter Gewaltandrohung die komplette Verschleierung forderten. Die Haltlosigkeit der Legende von der angeblichen Befreiungsmission der Mudschahedin ist offenbar.

Unter den genannten Umständen wuchs in der Bevölkerung Kaschmirs vor allem das Verlangen nach Frieden, Normalität und Selbstbestimmung ohne äußere Einmischung und selbst ernannte fremde Fürsprecher finden wenig Unterstützung.

Zwischenstaatliche Rivalität

Seit Gründung der neuen Staaten in Südasien bemühte sich Pakistan um Gleichstellung mit Indien. Das war nicht nur wegen des asymmetrischen Größenverhältnisses, sondern vor allem wegen der schwächeren wirtschaftlichen und mangelnden industriellen Basis in Pakistan unerreichbar. Indien spielte in seinen Beziehungen zu den Nachbarstaaten seine Überlegenheit oft auch politisch aus – zum Nachteil der Ansätze regionaler Entwicklungskooperation. Pakistan machte über Jahrzehnte die bittere Erfahrung, dass in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit Indien keine Vorteile zu erringen waren. Diese Konstellation schien aufgebrochen, als 1998 das Land mit Indien in der Beherrschung der Nukleartechnologie samt ihren militärischen Einsatzmöglichkeiten gleichzog. Aus der lautstark verkündeten nuklearen Parität wurde ein neues, auf die nunmehr angenommene Gleichstellung gestütztes Selbstbewusstsein hergeleitet.

Die einseitige Betonung der militärischen Komponente in der Sicherheitslage spülte den Falken in Pakistan ebenso wie in Indien Wasser auf die Mühlen. Dagegen geriet die kritische Betrachtung der gravierenden sozialen Probleme, mangelnder Demokratie dort und der Demokratiedefizite hier, von Menschenrechtsverletzungen oder die Suche nach politischen Mitteln zur Bewältigung der zwischenstaatlichen Konflikte ins Hintertreffen. Vorsichtige Schritte in Richtung auf einen Dialog, wie sie in einer scheinbaren Entspannungsphase z. B. die indo-pakistanische Deklaration von Lahore (Februar 1999) manifestierte, wurden sofort durch akute militärische Auseinandersetzungen wie den Kargil-Konflikt (Mai 1999) konterkariert, die Aussichten für Fortschritte auf der politischen Ebene durch terroristische Anschläge wie den auf das indische Parlament vom Dezember 2001 zunichte gemacht. Das letzt genannte Ereignis bot den Anlass zu einer gewaltigen Streitkräftemobilisierung auf beiden Seiten der indisch-pakistanischen Grenze. Indien pocht dabei auf das nationale Souveränitätsrecht bei seinen Entscheidungen, weist Kritik aus dem Ausland an seinen Maßnahmen zurück; es verlangte, Pakistan als einen den Terrorismus unterstützenden Staat zu ächten. Pakistan bestreitet jede Verantwortung für terroristische Aktionen auf indischem Boden.

Kaschmir im Fokus

Im Kontext einer veränderten politischen Großwetterlage ist der Kaschmir-Konflikt nach wie vor ein kritischer Punkt in den Beziehungen der südasiatischen Kontrahenten. Beachtlichen Druck üben innere retrograde Kräfte auf die Regierungen in Islamabad und Neu Delhi aus. Pakistan – einst Basis der Mudschahedin – muss sich, da diese von Repräsentanten einer vorgeblichen Befreiungsmission nun als Taleban- und al-Qaida-Kämpfer zu Top-Terroristen und damit zum Zielobjekt des „Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“ mutierten, während das Land ein wichtiger Partner der USA-geführten Koalition wurde – der radikal-islamischen Gruppen erwehren, die inzwischen in den USA, in Großbritannien und anderswo verboten wurden. Präsident Musharraf erklärte im September 2001, sein Land werde die Taleban nicht länger unterstützen. Er sah sich gezwungen, einige militante Gruppen zu verbieten, was jedoch deren Operationsfähigkeit nicht ernstlich beeinträchtigte. Diplomatisch genötigt von westlichen Staaten versprach er ferner, von pakistanischem Boden ausgehende terroristische Aktivitäten im indischen Kaschmir zu unterbinden.

Dämpfend wirken externe Faktoren. Die imperialen Interessen der westlichen Industrieländer am Zugriff auf die Öl- und Gasressourcen in Mittelasien verlangen ein stabiles Umfeld. Dabei sind die ziemlich undemokratischen Zustände in Pakistan wie in den mittelasiatischen Staaten kein Hindernis für die angestrebte strategische Kooperation. Für das Regime in Pakistan bilden die extremen islamistischen Kräfte indes eine reale Bedrohung, zumal sie Widerhall auch in den Streitkräften, dem Hauptträger der Staatsmacht, finden. Dem Einschwenken der Regierung auf die Linie der USA und ihrer Verbündeten steht die Haltung jener Militanten gegenüber, die den Islam international durch westliche Mächte und insbesondere durch die USA, Russland, Israel sowie in Indien gefährdet sehen. Präsident Musharraf ist bemüht, seine Machtposition durch Verfassungsänderungen im Vorfeld der für Oktober 2002 anberaumten Wahlen zu festigen, die Opposition auszuschalten und die besondere Rolle des Militärs zu sichern.(5) Er versicherte zugleich gegenüber gemäßigten muslimischen Organisationen, dass am islamischen Charakter des Staates nicht gerüttelt werde.

Indien regiert seit 1998 eine Koalition unter Führung von politischen Kräften, die einen „Hindu-Nationalismus“, einen politischen Hinduismus, vertreten. Sie werden gedrängt von Elementen, die für ein „Hindu-Indien“ und die Assimilierung der „Minderheiten“ unter den Vorzeichen eines „Hindutums“ eintreten. Dieselben Kräfte befürworten das Ersetzen des föderalen Staatsaufbaus durch ein zentralisiertes Präsidialregime. Sie fordern eine Konfrontationspolitik gegenüber Pakistan und Kompromisslosigkeit in der Kaschmirfrage. Indien weigert sich nach wie vor, Kaschmir als eine strittige Frage anzuerkennen.

Die Regierenden beider Seiten müssen sich in ihrer Politik mit der in der Region operierenden imperialistischen Hegemonialmacht sowie im Rahmen der Anti-Terror-Koalition arrangieren.

Die erstarrten Fronten machen die baldige Beilegung des Kaschmir-Konflikts unwahrscheinlich. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass sich weder die Bevölkerung Kaschmirs mit der Situation abfindet noch die gesellschaftlichen Kräfte beider Staaten in der Frage passiv bleiben. Neben linken und demokratischen Parteien und Organisationen sowie zahlreichen Einzelpersönlichkeiten, die auf beiden Seiten an die Vernunft appellieren, treten seit Jahren mehr oder weniger organisierte Kräfte gemeinsam auf nicht-offizieller Ebene, mittels der sog. track-two diplomacy, hervor. In solchen Gremien setzen sich Prominente aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen Pakistans und Indiens für politischen Dialog ebenso ein wie für die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten. Sie wenden sich u. a. gegen das Säbelrasseln, gegen Terrorismus, die Militarisierung der Politik, religiös verbrämte Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen und fordern die Durchsetzung demokratischer und säkularer Werte.(6) Freilich sind dauerhafte positive Ergebnisse der Bemühungen nur zu erwarten, wenn sich auch auf der „ersten Ebene“, in der offiziellen Politik, etwas bewegt und von politischer Verantwortung getragene Verhandlungsbereitschaft realisiert wird.

Fußnoten:

  1. Vgl. R.-P. Paringaux, Keine demokratische Lösung für Kaschmir in Sicht, in: Le monde diplomatique 1 (2002).
  2. Vgl. zum folgenden: N.N. Raina, Kashmir Politics and Imperialist Manoeuvres 1846-1980, New Delhi 1988.
  3. Die Resolution der United Nations Commission for India and Pakistan vom 5. Januar 1949 bestimmte als Gegenstand einer Volksabstimmung den Entscheid über den Anschluss des Staates Jammu und Kaschmir entweder an Indien oder Pakistan. Siehe Official Records of the United Nations Security Council, Meeting No. 534, 6 March 1951, S. 13 ff.
  4. Siehe B. Raman, Lone’s Murder: Pakistan’s Proxy War – Phase III. South Asia Analysis Group, Chennai, Paper No. 462 (22.05.2002).
  5. Ahmed Rashid, Pakistan: Is Terror Worse than Opposition? In: Far Eastern Economic Review, August 1, 2002.
  6. Siehe z. B. SAHR Statement on Impending Indo-Pak Conflict. (Issued by the South Asians for Human Rights on May 29, 2002). In: Mainstream (New Delhi), June 1, 2002 S. 35.

*Prof. Dr. J. Heidrich, Berlin, ist Südasienhistoriker
Der Beitrag erscheint im Oktober 2002 in Heft 5/2002 der Marxistischen Blätter.

 

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